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15. Januar 2004. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Indien Mehr als eine Hand voll Reis

Wenn ein global agierender Saatgut-Konzern sich für alte Reissorten in der indischen Provinz interessiert, verfolgt er ein Ziel. Die Reisbauern von Chhattisgarh protestierten erfolgreich gegen die Vermarktung ihres Wissens. Das Weltsozialforum verhandelt auch die Frage des Gen-Diebstahls.

Mumbai. Im Dezember 2002 verhaftete die Polizei im indischen Bundesstaat Chhattisgarh mehrere tausend Bauern. Die Männer, Frauen und Kinder hatten das Demonstrationsverbot missachtet. Ihre provozierte, freiwillige Verhaftung - der so genannte courting arrest - gehört zur Strategie des "zivilen Ungehorsams", wie ihn Mahatma Gandhi in der indischen Unabhängigkeitsbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts mit großem Erfolg praktiziert hatte. Wie sie es im Geschichtsunterricht gelernt hatten, bestiegen die Demonstranten brav die von den Behörden gemieteten Busse, ließen sich zur Polizeistation fahren, wo ihre Identität erfasst wurde, bevor sie entlassen wurden.

Die Demonstranten hatten auch den Namen ihrer Aktion von Gandhi ausgeliehen. Sie nannten sie eine "Satyagraha" in Anlehnung an die gewaltlose "Wahrheitsbewegung", mit der Gandhi gegen die koloniale Fremdherrschaft gekämpft hatte. Die Organisatoren, mehrere Bauerngruppen und NGOs, machten daraus eine "Saatgut-Satyagraha", um zu demonstrieren, dass - trotz Erlangung der politischen Freiheit - die ökonomische Befreiung im Bereich der Nahrungsversorgung längst nicht gesichert ist. Ihr Protest richtete sich gegen Syngenta, einen aus den Agrarabteilungen von Novartis und Astra-Zeneca hervorgegangenen Saatgutkonzern.

Was interessiert einen global agierenden Konzern an dem kleinen zentralindischen Stammesstaat Chhattisgarh? Der Bundesstaat, erst vor vier Jahren aus der großen Provinz Madhya Pradesh hervorgegangen, ist dank seines Klimas und der bislang schwach entwickelten Wirtschaft eine Region mit großer Artenvielfalt, von kleinen Stammesgemeinschaften über Jahrtausende hinweg gepflegt und genutzt.

In den Siebzigerjahren hatte R. H. Richharia, Wissenschaftler an der Indira-Gandhi-Landwirtschaftsuniversität in der Provinzhauptstadt Raipur, 19.000 in der Region angebaute Reissorten katalogisiert. Eine Sammlung, die bis heute auf 22.972 genetische Varietäten angewachsen ist. Es ist - nach der Sammlung im "International Rice Research Institute" (IRRI) bei Manila - die größte "Reis-Genbank" der Welt. Sie beherbergt das kleinste und das größte bekannte Reiskorn der Welt; biologische Formen, die eine Vielfalt von Geruchs- und Farbvarianten haben; Reis, der unter Wasser wächst oder über sehr kurze oder sehr lange Zeit reift; Sorten, die medizinische Wirkung haben oder einen besonders hohen Proteingehalt.

Richharia verlor seinen Posten, als er sich weigerte, diesen Schatz dem von der Rockefeller-Stiftung gegründeten IRRI in Manila zu übergeben. Er befürchtete, dass das in dem Saatgut gesammelte Wissen in die Hände privater Firmen geraten könnte. Sein Ziel war es, Wissenschaftler das Saatgut erforschen und kreuzen zu lassen und es den Bauern anschließend zurückzugeben. Denn aus seiner Sicht waren sie die geistigen Eigentümer.

Richharia gelang es, die Sammlung im Land zu behalten. Doch sein Konflikt mit dem indischen Agro-Establishment bewirkte, dass die Idee der genetischen Aufwertung sowie die Weitergabe der dabei gezogenen Sorten an die Bauern nicht zustande kam. Das lag vor allem daran, dass sich die Regierung inzwischen ganz der im IRRI entwickelten Einfuhr und Pflege der wenigen Hybridsorten verschrieben hatte. Sie sollten unter dem Banner der "grünen Revolution" sicherstellen, dass Indien genug Getreide anbauen kann, um nie mehr Hunger zu leiden. Traditionelle lokale Reissorten wurden verdrängt, indem die Hybridsorten mithilfe von Saatgut- und Düngemittel-Subventionen massiv bevorzugt wurden.

Die Erfolge der "grünen Revolution" waren beeindruckend und erlauben es dem früheren Lebensmittel-Importeur Indien heute, 60 Millionen Tonnen Reis zu bevorraten. Heute werden aber auch die Nachteile dieser Politik spürbar. Die kapitalintensiven Inputs und der massive Wasserbedarf haben für eine ökonomische, soziale und geografische Polarisierung im Bauernstand gesorgt. Gut gestellte, Land besitzende Bauern drängen die Kenntnisse und Erfolge der Kleinbauern immer mehr zurück. Die fehlende Rücksicht auf Mikroklimata, Bodenbeschaffenheit und Wasserhaushalt führte nach einer Phase massiver Ertragszunahmen zu einer Abflachung und schließlich zur Abnahme der Erträge, selbst in so fruchtbaren Bundesstaaten wie Chhattisgarh.

Die Provinz war früher eine der "Reisschüsseln" des Landes - heute muss sie Reis importieren. Der "Food Insecurity Atlas of India" zählt Chhattisgarh zu den Bundesstaaten mit der größten Nahrungsunsicherheit, mit einer rapide sinkenden Produktivität. Der zunehmende Nahrungsimport und die dadurch erhöhten Konsumpreise haben diese Unsicherheit noch vergrößert.

Die Befürchtung, dass eine Kooperation mit dem Saatgut-Konzern Syngenta diese globale Vernetzung und Abhängigkeit von importiertem Saatgut noch vergrößern könnte, hat die Bauern von Chhattisgarh mobilisiert. Ihr Misstrauen war berechtigt. Denn inzwischen hatte Syngenta, wie andere Agrokonzerne auf die genetische Vielfalt indischer Kulturpflanzen aufmerksam geworden, ein Auge auf die einmalige Richharia-Sammlung geworfen. Im Sommer 2002 verhandelten Syngenta und die Gandhi-Universität hinter verschlossenen Türen, im Oktober unterzeichneten sie ein gemeinsames "Memorandum of Understanding", das nie veröffentlicht wurde.

Laut Pawan Malik, Chef der Saatgutabteilung von Syngenta India, soll das Papier eine Zusammenarbeit mit der Universität gewährleisten, die sich im Rahmen des "Internationalen Vertrags über pflanzengenetische Ressourcen für Nahrungsmittel und Landwirtschaft" bewegt. Dies legt in Artikel 12 fest, dass die privaten Empfänger beziehungsweise Käufer dieses Wissens daraus keine privaten Eigentumsrechte geltend machen dürfen.

Für die protestierenden Bauern der "Saatgut-Satyagraha" sind diese Versprechungen nichts als Augenwischerei. Inzwischen hatten britische Rechtsgutachten nämlich ergeben, dass das Abkommen ein - je nach Standpunkt - verhängnisvolles oder viel versprechendes Schlupfloch aufweist. Gemäß Professor Marothia von der Indira-Gandhi-Universität gilt das Patentierungsverbot nämlich "nur für das Genmaterial in der Form, in der es vom multilateralen System verfügbar gemacht worden ist". Doch die genetischen Modifikationen, die daraus entwickelt werden, "können aufgrund des Gutachtens als geistiges Eigentum der Entwicklungsinstitution geschützt werden". Dies sei der erste Schritt in einem Prozess, in dem die eigentlichen Eigentümer - die dörflichen Gemeinschaften - am Ende nicht nur nichts für ihr Saatgut bekämen, sondern sogar noch dafür bezahlen müssten.

Das Misstrauen der "Saatgut-Satyagraha" ist aber nicht nur ein prinzipielles; es nährt sich zudem von der Geheimnistuerei und den zahlreichen Verletzungen gesetzlicher Richtlinien, die für die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Institutionen und privaten, gewinnorientierten Gesellschaften in diesem Bereich bestehen. Nachdem die Einigung zwischen Syngenta und der Universität öffentlich geworden war, stellte sich nämlich heraus, dass die Universität weder das Nationale Büro über Pflanzliches Genmaterial (NBPGR) noch das Landwirtschaftsministerium, noch die Reisforschungsanstalt in Hyderabad über den Deal informiert hatte. Dies sei, so erklärte A. K. Singh, der Chef von NBPGR, umso unverständlicher, als die Ausführungsregeln der WTO-Bestimmungen über den Schutz und Handel von geistigem Eigentum - das so genannte Trips-Abkommen - und der Rio-Konvention über die Artenvielfalt immer noch nicht geklärt sind.

Die "Saatgut-Satyagraha" im Dezember 2002 war erfolgreich. Die Kooperationsvereinbarung zwischen Universität und Syngenta wurde annulliert, der Rektor der Universität musste den Hut nehmen. Doch das war nur ein Teilerfolg. Indische Umweltaktivisten, die zum Weltsozialforum nach Bombay gereist sind, befürchten nun, dass die völkerrechtlichen Bedingungen, denen sich Indien mit dem Beitritt zum Internationalen Saatgut-Abkommen unterworfen hat, es dem Land schwer machen werden, sich vor "der genetischen Plünderung" seiner biologischen Vielfalt zu schützen.

Gautam Bandopadhyay, Aktivist der Kampagne, führt als Beispiel das im letzten Jahr gewährte Patent des Europäischen Patentamts in München für die Weizensorte "Galahad 7" der Firma Monsanto an. "Galahad 7" wurde aus der Kreuzung der in der Natur wachsenden traditionellen Weizensorte "Galahad" und der indischen Sorte "Nap Hal" gewonnen. Monsanto, so der Vorwurf von Greenpeace und Bandopadhyay, kann mit diesem Patent im Rücken nun Bauern und Agronomen gerichtlich verfolgen, wenn sie mit "Nap Hal" Weizen entwickeln, der genetisch ähnliche Merkmale wie "Galahad 7" aufweist. Am Ende müsste jeder zahlen, selbst Bäckereien oder Supermärkte - und deren Kunden.

Quelle: Der Beitrag erschien am 15. Januar 2004 in der "Tageszeitung" (taz).

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