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27. Juli 2007. Analysen: Politik & Recht - Indien Pratibha Patil ist neue Präsidentin Indiens

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl, die am 19. Juli 2007 in New Delhi und allen Landeshauptstädten der indischen Union stattfand, wurde am 21. Juli in Delhi bekannt gegeben. Die Auszählung fand unter großen Sicherheitsvorkehrungen im indischen Parlament statt.

Die Congress-Politikerin Pratibha Patil (siehe Porträt) wurde zur neuen Präsidentin Indiens gewählt und am 25. Juli vereidigt. Sie besiegte ihren Gegenkandidaten, den bisherigen Vizepräsidenten Bhairon Shekhawat (siehe Porträt), mit 638.116 auf sie entfallende Stimmen des Wahlkollegiums, das sich aus den Abgeordneten beider Häuser des indischen Parlaments sowie Abgeordneten aller Parlamente der Unionsstaaten zusammensetzte. 1 Im Rennen um das höchste Staatsamt erreichte sie damit einen deutlichen Vorsprung von 306.810 Stimmen vor Shekhawat, auf den insgesamt nur 331.306 der abgegebenen Stimmen entfielen. Ein für ihn vorteilhaftes cross-voting fand nicht statt. Ganz im Gegenteil, Dissidenten aus dem BJP/NDA-Lager stimmten vereinzelt für Pratibha Patil.

Kurz nach dem Bekanntwerden seiner Wahlniederlage trat Bhairon Shekhawat vom Amt des Vizepräsidenten zurück.

Vorgeschichte und Positionen vor der Wahl

Die politische Klasse konnte sich im Vorfeld dieser Wahl lange Zeit auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen. Die von 1998 bis 2004 regierende und von der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP) angeführte National-Demokratische Allianz (NDA), das heißt BJP und einige Regionalparteien, plädierte im Vorfeld der Kandidatenaufstellung für eine zweite Amtszeit des beim Volk sehr populären bisherigen Präsidenten Dr. A.P.J. Abdul Kalam. Dies wurde vom Congress jedoch strikt verworfen, zumal es die BJP 2002 abgelehnt hatte, K.R. Narayanan, dem ehemaligen Congress-Politiker und ersten Dalit im Amt des Staatspräsidenten, eine zweite Amtszeit zu ermöglichen.

Stattdessen kam es zu einer wahren Schlammschlacht ("India’s murkiest presidential poll", The Times of India, 20.7.2007, S.1) mit wechselseitigen Beschuldigungen. Nach Aussage kritischer Kommentatoren geschah dies auf dem Niveau einer Bürgermeisterschaftswahl. Die BJP unterstellte Pratibha Patil finanzielle Unregelmäßigkeiten und Nepotismus zugunsten von Familienmitgliedern als Vorsitzende einer Genossenschaftsbank für Frauen sowie angeblich zwielichtige Praktiken in einem Rechtsverfahren. Dagegen warf der Congress Bhairon Shekhawat seine Tätigkeit als Polizist während der Endphase der britischen Kolonialherrschaft und seine frühere Mitgliedschaft in der hindu-nationalistischen Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligenkorps, RSS) vor, da diese Organisation die Grundpfeiler der indischen Demokratie und des Säkularismus systematisch angreife.

Die Congress/UPA-Strategie zielte auf 2009

Folgende Motive bewegten den Congress zur Kandidatenauswahl:

  • Pratibha Patil galt keineswegs als erste Wahl. Da aber die Kommunisten und auch einige Allianzpartner der regierenden United Progressive Alliance (UPA) andere Congress-Kandidaten – unter anderen Innenminister Shivraj Patil sowie Dr. Karan Singh, Präsident des Indian Council for Cultural Relations (ICCR) – als nicht akzeptabel ablehnten und der Congress auf den für den Zusammenhalt und die Aktionsfähigkeit der UPA-Minderheitsregierung so wichtigen Außenminister Pranab Mukherjee, der sich allseitiger Akzeptanz im Regierungslager und der dieses unterstützenden Parteien erfreute, nicht verzichten wollte, wurde schließlich die national kaum bekannte Gouverneurin aus Rajasthan aus dem Hut gezaubert. Sie galt als neunt-beste Lösung – auch hinter den Frauen Mohsina Kidwai und Nirmala Deshpande – und selbst führende politische Feministinnen vermochten in ihrer Nominierung keine Gender-Strategie des Congress zu erkennen. (Barkha Dutt: Not all the President’s men. Hindustan Times, 16.6.2007, S. 12. Die Autorin ist eine führende Fernsehjournalistin, u.a. mit der Sendung We the people.)

  • Pratibha Patil gilt als loyale Person an der Staatsspitze, was mit Blick auf die Erteilung zum Regierungsauftrag angesichts eines möglichen Parlaments ohne klare Mehrheiten nach der Unterhauswahl 2009 machtpolitisch von entscheidender Bedeutung sein könnte, so die Congress-Strategen. Interessanterweise akzeptierte der Congress ohne Zögern selbst die Stimmen der faschistoiden Regionalpartei Shiv Sena aus Maharashtra, die ihren langjährigen Partner BJP - nicht nur mit diesem Schritt - im Namen des "Maratha-Stolzes" brüskierte. Das Bündnis BJP/Shiv Sena steht in Maharashtra vor einer offenen Zerreißprobe.

Die BJP/NDA hoffte das Regierungslager zu spalten

Warum trat Bhairon Shekhawat in diesem für ihn von Anfang an praktisch aussichtslosen Rennen an?

  • BJP und NDA wollten einen politischen Keil in das keineswegs felsenfeste Regierungslager treiben.

  • Eine Niederlage der Regierungskandidatin, so ihre Strategen, hätte möglicherweise den Zusammenhalt der Minderheitsregierung von Premierminister Dr. Manmohan Singh gefährdet.

  • Bhairon Shekhawat, der sich wegen des ihm Parteien übergreifend entgegen gebrachten Respekts und der antizipierten Kastenloyalitäten, vor allem aus dem Lager der Rajputen (traditionelle Kriegerkaste), explizit als unabhängiger Kandidat bezeichnete, wollte auch ein Zeichen setzen, dass ein Vizepräsident ein natürlicher Kandidat für das höchste Staatsamt sei. Er plädierte für ein aktiveres Präsidentenamt, gerade auch, um auf die Anliegen der marginalisierten, hungernden und unterernährten Bevölkerung hinzuweisen. Immerhin kämpfen circa 800 Millionen InderInnen mit täglich weniger als 2 US-Dollar um ihr Überleben. Schon in den 1960er Jahren hatte Shekhawat als Ministerpräsident von Rajasthan mit seinen praktisch orientierten Armutsprogrammen eine solche Linie vertreten.

Die UNPA als dritte Kraft erwies sich als Flop

Die in der ersten Jahreshälfte 2007 gegründete United National Progressive Alliance (UNPA) wollte mit ihrer Enthaltung bei der Präsidentenwahl und der Aufstellung eines eigenen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten ein erstes Zeichen setzen:

  • Dieses Bündnis von verschiedenen Regionalparteien, darunter prominent die Samajwadi Party (SP) aus Uttar Pradesh, die Telegu Desam Party (TDP) aus Andhra Pradesh und die All-India Anna Dravida Munetra Kazhagam (AIADMK) aus Tamil Nadu, versuchte in letzter Minute doch noch die Wiederwahl von Präsident Dr. A.P.J. Abdul Kalam zu ermöglichen. Als sich dafür keine Stimmenmehrheit abzeichnete – Kalam machte dies ausdrücklich zur Bedingung seiner möglichen Bereitschaft für eine zweite Kandidatur - erklärte dieses mit Blick auf die Unterhauswahl 2009 geschlossene Zweckbündnis von Wahlverlierern der letzten Jahre, dass es sich nicht an der Präsidentenwahl beteiligen würde, sehr zum Leidwesen der BJP. Gerade von ihr will sich die UNPA jedoch deutlich distanzieren.

  • Noch im Vorfeld der Präsidentenwahl nominierte die UNPA mit dem früheren Unionsminister und Lok Sabha(Unterhaus)-Abgeordneten Rasheed Masood von der SP, der den Wahlkreis Saharanpur in Uttar Pradesh bereits zum fünften Mal repräsentiert, ihren Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Diese Nominierung markiert, neben der Nichtteilnahme an der Präsidentenwahl, ein deutliches Zeichen an die Wählerschaft islamischen Glaubens, die sich von diesen Parteien teilweise abgesetzt hatte, vor allem wegen der genozidartigen Verfolgungen von Muslimen in Gujarat 2002. Die UNPA lehnte ausdrücklich die Unterstützung durch BJP und NDA ab. Indirekt hat die UNPA damit die Parameter für den von den Kommunisten im Gegenzug für ihre Unterstützung für Pratibha Patil vorgeschlagenen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten beeinflusst, nach Maßgabe von Prakash Karat, Generalsekretär der Communist Party of India/ Marxist (CPI/M), sollte dies kein Berufspolitiker sein.

Die UNPA hatte ihre Strategie mit Blick auf die Unterhauswahl 2009 ausgerichtet, um zusammen mit den Kommunisten den politisch nur sehr schwer zu gestaltenden Spielraum für eine sogenannte dritte Front als Alternative zu Congress und BJP zu sondieren. Die bei dieser Wahl offensichtlichen Risse in ihren Reihen stellen ihre Kohäsion jedoch eindeutig in Frage.

Fazit

Die Gefolgschaft der führenden politischen FeldherrenInnen, ein durchaus angemessener Begriff angesichts der fehlenden innerparteilichen Demokratie in praktisch allen größeren Parteien und des systemischen Charakters der demokratisch legitimierten Staatsklasse mit zunehmend plutokratischen, kriminellen und fragilen rechtsstaatlichen Tendenzen, verhielt sich weitgehend loyal und stimmte im Großen und Ganzen entsprechend den Vorgaben der Parteiführer für einen der beiden Rivalen. Die Wahlbeteiligung betrug 88,5 Prozent unter den Abgeordneten von Lok- und Rajya Sabha sowie sogar 91 Prozent unter den Members of Legislative Assemblies. Bei einem kompletten UNPA-Boykott hätte sie wohl etwas niedriger gelegen. In letzter Minute scherten jedoch unter aanderen die AIADMK, der Asom Gana Pratishad (AGP) aus dem krisengeschüttelten Nordoststaat Assam und die Indian National Lok Dal (INLD) aus dem Agrarstaat Haryana aus der UNPA-"Front" aus und dürften wohl mehrheitlich für Shekhawat gestimmt haben. BJP-Patriarch Atal Bihari Vajpayee beklagte schon vor der Wahl die desintegrativen Tendenzen (Shiv Sena und Trinamool Congress) in der NDA. Auch die Janata Dal/ Secular (JD/S)-Abgeordneten des BJP-Regierungspartners in Karnataka stimmten nicht für den bisherigen Vizepräsidenten. Einige unzufriedene BJP-Abgeordnete aus Gujarat stimmten sogar für Patil.

Im Wahlkollegium dürften zwischen 20 bis möglicherweise sogar 30 Prozent Stimmberechtigte mit kriminellem Hintergrund bzw. gegen sie laufenden Verfahren, die von Korruption bis hin zu Mord und Vergewaltigung reichen können, gesessen haben. Allein im indischen Unterhaus weisen knapp 20 Prozent der Abgeordneten einen solchen Hintergrund auf. In den einzelnen Bundesstaaten wird der Anteil von Abgeordneten mit derartigen credentials noch höher geschätzt. Fünf Abgeordnete beider Häuser des indischen Parlaments und 55 Abgeordnete von Einzelstaatsparlamenten wählten mit Sondergenehmigungen, da sie sonst in Gefängnissen sitzen bzw. unter Hausarrest stehen. (Saroj Nagi: On poll eve, Cong smells victory. Hindustan Times, 19.7.2007, S.9)

Die BJP/NDA-Strategie scheiterte bei dieser Wahl eindeutig. Eine Spaltung der Wahlallianz von UPA, Kommunisten und der 2007 mit absoluter Mehrheit im größten Unionsstaat Uttar Pradesh an die Macht gekommenen Bahujan Samaj Party (BSP) unter Führung von Ministerpräsidentin Mayawati gelang nicht. Die BSP-Führerin sprach sich – allerdings auch mit deutlichen politischen Preisen für den Congress verbunden - ausdrücklich schon im Vorfeld der Kandidatenauswahl für die Congress-Kandidatin aus und warf das beachtliche Stimmenpotenzial ihrer Partei, das in etwa dem der UNPA insgesamt entspricht, in die Waagschale.

Vor der Unterhauswahl 2004 waren die Positionen des Staatspräsidenten, Vizepräsidenten, Premierministers und Speakers des Unterhauses alle mit nominierten – Dr. Abdul Kalam bewahrte allerdings seine unabhängige und neutrale Position - bzw. gewählten Persönlichkeiten von BJP und NDA besetzt. Der Hindu-Nationalismus schien nachhaltig zu triumphieren. Mit der Wahl von Pratibha Patil als Staatspräsidentin – ein Novum in der Geschichte des unabhängigen Indien – und der noch ausstehenden Wahl des Vizepräsidenten am 10. August 2007, sind diese früheren Verhältnisse komplett in ihr Gegenteil verkehrt worden. Am Vorabend der offiziellen Bekanntgabe des Ergebnisses der Präsidentenwahl einigten sich Congress und Kommunisten auf den allseits anerkannten ehemaligen Spitzendiplomaten und Akademiker Mohammed Hamid Ansari für das Amt des Vizepräsidenten. Er fungierte unter anderem als indischer Hochkommissar bei den Vereinten Nationen, als Botschafter im Iran und Saudi-Arabien, Vizekanzler der Aligarh Muslim University und zuletzt als Vorsitzender der Kommission für Minderheiten.

Jayalalitha, die ehemalige Ministerpräsidentin von Tamil Nadu, nannte die Kandidatin Pratibha Patil vor der Wahl respektlos einen "joke on the nation", die Wochenzeitschrift India Today titelte "Embarrassing Choice". Es liegt nun an der neuen Präsidentin, all jene Unkenrufe Lügen zu strafen, um - nach ihrem erfolgreichen und in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Vorgänger Dr. A.P.J. Abdul Kalam – der Nation zu zeigen, dass sie durchaus in der Lage ist, als erste Frau im höchsten Staatsamt – dies hieße im Kriegsfall auch als Oberkommandierende der indischen Streitkräfte – eigene Akzente zu setzen.

In einer Gesellschaft, in der Frauen – trotz aller strukturellen und physischen Gewalt gegen viele von ihnen – zunehmend aus ihren tradierten Rollenzuweisungen ausbrechen, könnte sie eine wichtige Katalysatoren-Rolle für eine umfassende Frauenemanzipation in einer bröckelnden patriarchalischen Gesellschaft symbolisieren.

Die durch die Anschuldigungen durchaus beschädigte Präsidentin Pratibha Patil wird nun unter Beweis stellen müssen, ob sie, ausgestattet mit einem eindeutigen Mandat in der 13. Präsidentenwahl – sie ist die 12. Amtsinhaberin – seit der indischen Unabhängigkeit, wirklich neue Akzente setzen und nennenswert mit dazu beitragen kann, die in vielerlei Hinsicht gespaltene Nation schrittweise zu einen, obwohl dies natürlich primär eine Aufgabe der reformorientierten Teile der politischen Klasse und anderer wichtiger Kräfte der indischen Gesellschaft ist.

 

 

[ 1 ] Jeder Staat ist entsprechend seinen Einwohnern und der Zahl seiner Abgeordneten proportional vertreten. Jede Abgeordnetenstimme aus jedem einzelnen Staat hat deshalb einen bestimmten Wert: Die Einwohnerzahl wird durch 1.000 und danach durch die Anzahl der Abgeordneten dividiert. Die Stimmen werden nach Staaten ausgezählt.

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