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24. Oktober 2007. Analysen: Nepal - Politik & Recht Showdown zu den Wahlen

Erneut ist der Termin zur Wahl von Nepals verfassungsgebender Versammlung verschoben worden. Die aufständischen Maoisten haben sich unterdessen aus der Übergangsregierung zurückgezogen und so die heiße Phase des Wahlkampfs eröffnet.

Nach zehn Jahren "Volkskrieg" hatte sich die CPN-Maoist vor fast zwei Jahren mit ihren ursprünglichen Gegnern, den bürgerlichen Parteien, gegen König Gyanendra verbündet, der im Februar 2005 Macht an sich gerissen hatte . Nach dem Einlenken des Monarchen im April 2006 zog sich ihre Guerilla-Armee in Lager unter UN-Aufsicht zurück, das alte Parlament wurde wieder eingesetzt und eine Übergangsverfassung erlassen. Im Februar bildeten die Maoisten und die bürgerliche Sieben-Parteien-Allianz eine Interimsregierung zur Vorbereitung der Verfassungsversammlung. Sie war ursprünglich für Juni geplant, nun sollen die 425 Abgeordneten am 22. November gewählt werden.

Nepal kann sich vom kommenden Verfassungsprozess viel erhoffen: Die CPN-Maoist, die nach Meinungsumfragen mehr Stimmen als die Kongresspartei des greisen Premier Koirala und die Sozialdemokraten der CPN-UML erwarten darf, könnte einen gesellschaftlichen Konsens schaffen über die Regeln auf dem Weg zur "Neuen Volksdemokratie" - sofern sie sich langfristig zum politischen Wettbewerb mit anderen Parteien bekennt. Die bürgerlichen Kräfte könnten sicherstellen, dass - wie immer zukünftige Mehrheiten die Gesellschaft gestalten wollen - die Neuordnung des Zusammenlebens nach rechtsstaatlichen Grundsätzen abläuft.

Ebenso viel aber hat das Land zu befürchten: Bisher fanden alle Verhandlungen zwischen den beiden Blöcken hinter verschlossenen Türen statt. Eine verfassungsgebende Versammlung, die von neuen Kadern und alten Patronage-Netzen dominiert ist, könnte ähnliche Wege gehen: Ältere Herren, die die Zukunft ihrer Untergebenen oder Volksmassen (je nach ideologischer Herkunft) vertrauensvoll in ihre eigenen Hände legen. Dann drohen die gewaltsamen Minderheiten-Proteste im Terai, dem südlichen Tiefland an der Grenze zu Indien, endgültig zum Flächenbrand zu werden. Denn ganz Nepal ist durchzogen von "Minderheiten". Noch immer sind in dem Hindu-Königreich zahlreiche Bevölkerungsgruppen kulturell und wirtschaftlich an den Rand gedrängt. Ohne angemessene Repräsentation in Kathmandu und in den regionalen und örtlichen Machtzentren werden regionalistische Bewegungen immer öfter zur Gewalt greifen. Das würde dem Königshaus, dessen Palastsekretariat mit seinen Verbündeten in der Armeeführung und in der Ministerialbürokratie weiterhin einflussreich ist, Gelegenheit geben, sich erneut als Symbol der Einheit des Landes zu präsentieren. Schon jetzt munkeln nicht nur Maoisten, dass Armee- und Palastkreise die Unruhen im Terai zu steuern versuchten.

Die gerade erwachende Diskussion um Föderalismus, Selbstverwaltung und Mitbestimmungsrechte droht dabei ins Hintertreffen zu geraten. Selbst die CPN-Maoist, die das Thema propagiert hat, vermeidet nunmehr Begriffe wie das "Selbstbestimmungsrecht" der Bewohner der neu zu ordnenden Regionen und spricht vage von "Mitbestimmung". Und Kathmandus bürgerliche Parteien sind weniger den je gewillt, die Abgabe von Kompetenzen zu diskutieren.

Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht?

Gestritten wird im Vorfeld der Wahlen vor allem um das Wahlrecht. Beim Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis den Sitz, alle anderen gehen leer aus. In einem zersplitterten Parteiensystem entscheiden dann lokale Hochburgen und örtliche Bündnispolitik statt landesweiter Verankerung über die Anzahl der Mandate. Dementsprechend fordert die Kaderpartei CPN-M für die Wahl zur Verfassungsversammlung vehement das Verhältniswahlrecht, die ebenfalls von Aktivisten getragene UML tendiert in die selbe Richtung. Dagegen wollen die beiden stark klientelistisch organisierten Kongressparteien und einige Regionalparteien möglichst wenige Mandate nach landesweitem Proporz vergeben. Die Interimsverfassung sah 205 Mandate nach Mehrheitswahlrecht und 204 nach Verhältniswahlrecht sowie 16 von der Übergangsregierung zu vergebende Sitze vor - ein Kompromiss, der nie von allen Beteiligten ausdrücklich anerkannt worden war.

Die Maoisten lehnen diese Verteilung nun offen ab und fordern uneingeschränktes Verhältniswahlrecht; Ende September kündigten sie die Mitarbeit in der Regierung auf. Bisher ist keine Einigung in Sicht. Gewaltsame Proteste und Agitation der Maoisten, insbesondere des Jugendverbandes YCL, sind nun wahrscheinlich. Zwar hat die CPN(M) den Generalstreik vom 4. bis 6. Oktober abgesagt, mit dem sie die Einschreibung der Kandidaten für die nach Mehrheitswahlrecht zu vergebenden Sitze verhindern wollte; sie hat jedoch klar gemacht, nicht vom Verhältniswahlrecht abzurücken. Wenn der November-Termin gehalten werden soll, muss bald eine Einigung mit der Kongresspartei erzielt werden, sonst kommt der Winter, in dem Wahlen mangels Infrastruktur nicht stattfinden können.

Ein Aufschub bis zum nächsten Frühjahr könnte den bürgerlichen Parteien durchaus nutzen: Sie sind noch lange nicht in allen Gemeinden wieder präsent, und die Wiedervereinigung der beiden Kongressparteien, also der bei Premier G.P. Koirala und Ex-Premier Deuba zusammenlaufenden Patronage-Netze, braucht mehr Zeit als gedacht. Auch der Königspalast kann bei einer Verzögerung nur gewinnen, so schlecht wie sein Ansehen im Moment ist. Die Maoisten dagegen profitieren derzeit noch von ihrer bislang konstruktiven Rolle im Demokratisierungsprozess. Bei über einem Viertel unentschlossener oder uninformierter Wähler ist das ein Trumpf, der nach dem Rückzug aus der Regierung nun täglich weiter schmilzt. Auch für die Loyalität der eigenen Basis sind rasche Wahlen nötig, um die Entscheidung, die Revolution nun in der zivilen Arena fortzusetzen, weiterhin zu legitimieren.

Große Erwartungen der Kader

Auch wenn die Wahlen termingerecht stattfinden, wird es für die CPN(M) zu einer absoluten Mehrheit sicher nicht reichen. Eine Mehrheit gemeinsam mit der UML könnte jedoch die Ausrufung der Republik beschleunigen - ein symbolischer Sieg über das von wenigen Hindu-Kasten dominierte Gesellschaftssystem mit dem Monarchen als Inkarnation des Gottes Vishnu an der Spitze.

Damit erschöpfen sich allerdings die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden kommunistischen Parteien. Zu lange haben maoistische Kader die Aktivisten der UML aus ihrem Einflussgebiet vertrieben oder gar getötet, zu sehr ist die UML in klientelistische Beziehungen verstrickt, als dass sie wirkliches Interesse an Bodenreform und Gleichstellungspolitiken hätte.

Für ihre eigentliche Agenda und die erhoffte schrittweise Übernahme der Macht unter Führung der Partei müssen die Maoisten außerhalb der verfassungsgebenden Versammlung Unterstützung organisieren. Der erstaunliche Aufstieg der republikanischen Agenda – vor zehn Jahren noch ein Tabu, gibt es heute selbst in der Kongresspartei einen republikanischen Flügel, und gemäßigte Royalisten hoffen, wenigstens ein rein zeremonielles Königtum zu retten – hat gezeigt, welche Kampagnenfähigkeit eine straff organisierte, ideologisch geeinte und an der Basis verankerte Bewegung haben kann. Zudem werden die Maoisten kaum auf bewährte Methoden der Einschüchterung verzichten, zu sehr ist das orthodox-kommunistische Selbstverständnis als Avantgarde der Massen verankert.

"Volksdemokratie" und politischer Wettbewerb

An diesem Selbstverständnis hat auch das Bekenntnis zum politischen Wettbewerb nichts geändert. Erst vor zwei Jahren hatte die CPN-M ihr Bekenntnis zum Mehrparteiensystem und zur Entwicklung einer "neuen Art von Volksdemokratie" publik gemacht. Dem waren mehrjährige Diskussionen innerhalb des Zentralkomitees vorangegangen. Im Mai 2003 einigte sich das Zentralkomitee darauf, die kommunistischen Regierungen des vergangenen Jahrhunderts seien auch aus Mangel an Streitkultur und politischem Wettbewerb zugrunde gegangen.

Die neue Linie zur "Entwicklung der Demokratie im 21. Jahrhundert" konnte sich jedoch erst 2005 durchsetzen. Zuvor hatte die Parteiführung noch geglaubt, in die Phase der "Strategischen Offensive" übergehen und gegen eine erwartete indische Invasion "patriotische Kräfte" auch im Umkreis der Monarchie mobilisieren zu können. Baburam Bhattarai, Vordenker der neuen Linie, wurde aller Ämter enthoben, nachdem er sich erdreistet hatte, seinen Widerspruch innerparteilich zu publizieren. Erst mit dem Putsch des Monarchen und der massiven Aufrüstung der königlichen Armee setzte sich die Auffassung durch, eine Zusammenarbeit mit den bedrängten parlamentarischen Parteien zu suchen und sich dem demokratischen Wettbewerb zu stellen. Bhattarai wurde rehabilitiert und in die Verhandlungen einbezogen. Deren Ergebnis war eine lose Allianz, doch stark genug, um den König zu entmachten und in einer gemeinsamen Übergangsregierung ohne gewaltsame Konfrontationen zusammenzuarbeiten.

Diese Phase ist nun beendet, jetzt steht der Aufbau des "neuen Nepal" auf der Agenda. Nach Vorstellung der Maoisten soll die Verfassung verbindliche soziale Menschenrechte und eine gemischte Wirtschaftspolitik mit staatlich gelenkten Schlüsselindustrien verankern. CPN-M-Vorsitzender Prachanda: "Der sozioökonomische Wandel, für den wir kämpfen, richtet sich gegen Feudalismus und Imperialismus. Unser Ziel ist eine Mehrparteien-Demokratie innerhalb einer Verfassung, die diesen Wandel unterstützt." Die Strategie der CPN(M)-Führung sieht demnach eine Begrenzung des politischen Wettbewerbs auf "progressive" Parteien vor, um sich so die eigene Führungsrolle zu sichern. Nur wenn sich die bürgerlichen Parteien von losen Verbünden örtlicher Honoratioren zu einer programmatischen Alternative wandeln, werden sie ausreichend Raum für Dissens verteidigen können.

Quelle: Telepolis. Magazin für Netzkultur, 11.10.2007

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