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27. Dezember 2007. Analysen: Indien - Kunst & Kultur Einheit in der cineastischen Vielfalt

Oder: gibt es 'das' indische Kino?

Kürzlich wurde die indische Schauspielerin Shilpa Shetty in dem Interviewmagazin "Galore" mit einer bemerkenswerten Aussage über die Rezeption des indischen Kinos zitiert: "Das echte indische Kino wird in Europa kaum wahrgenommen". 1 Aus ihrem Mund muten diese Worte paradox an, da Shettys Präsenz in den europäischen Medien sowie ihr darauf gründender Erfolg als Hauptdarstellerin in dem Musical "Miss Bollywood" ohne die gegenwärtige Hochphase das "Indo-Chics" und Bollywood-Booms in Europa kaum denkbar wären.

Es ist noch nicht ganz ein Jahr her, als Shilpa Shettys souveräner Umgang mit rassistischen Äußerungen seitens ihrer Mitstreiter in der britischen Variante der Fernsehshow "Big Brother" die Schauspielerin auch hierzulande schlagartig bekannt machte. Nur in Randnotizen war hingegen zu lesen, dass man in Indien neben der großen Welle des Protests und der Solidarität mit Shetty auch darüber spottete, dass "Big Brother" ihrer Karriere immerhin ganz entscheidend auf die Sprünge geholfen hätte. Denn der "Mega-Star", geschweige denn "das Gesicht Bollywoods", als das sie mittlerweile hierzulande erfolgreich vermarktet wird, war sie in Indien zuvor keinesfalls. Kurze Zeit später folgte dann der vielzitierte Wangenkuss des amerikanischen Schauspielers Richard Gere, der abermals für einen gewissen medialen Aufruhr um ihre Person in Indien sorgte.

Und nun wirkt Shetty als "Miss Bollywood" immerhin selbst aktiv daran mit, dass das indische Kino hierzulande weiterhin in erster Linie mit exotisch-bunten Kostümen, fantastischen Tänzen und mitreißenden Melodien assoziiert wird. Was sie jedoch nicht daran hindert, dies im selben Atemzug als einseitige europäische Wahrnehmung zu kritisieren. Dieser Widerspruch verweist geradezu beispielhaft auf zwei Kernfragen, die die Diskussion über die indische Filmlandschaft seit Jahrzehnten prägen, nämlich zum einen die Frage, was "das echte indische Kino" sei und, eng damit zusammenhängend, welches Filmgenre "realistische" und "authentische" Geschichten erzähle.

Indische Kinos oder 'das' indische Kino?

Bollywood, das kommerzielle Hindi-Kino made in Bombay, ist nicht "das" indische Kino, denn daneben gibt es noch Tollywood und all die anderen -ollywoods, die sich nach dem Vorbild oder zeitgleich zum großen "B" in Indien und Südasien herausgebildet haben. Bei der schieren Anzahl von Filmen, die jährlich produziert werden, hat die Telugu-Filmindustrie aus dem Bundesstaat Andhra Pradesh zwischenzeitlich sogar Bollywood überholt. 2 Und hinsichtlich der Anzahl von Beschäftigten gilt die südindische Metropole Chennai in Tamil Nadu als das geografische Zentrum der indischen Filmindustrie. Was jedoch nichts an der Tatsache ändert, dass die kommerziellen Hindi-Filme weltweit die bekanntesten und zunehmend beliebten Hauptrepräsentanten des indischen Kinos sind.

Filmposter "Evano Oruvan"
Filmposter zum tamilischen Drama "Evano Oruvan" Foto: promo

Doch auch in Indien selbst zieht der Filmstandort Bombay mit seinem schillernden Starsystem nach dem Vorbild Hollywoods die mit Abstand größte Aufmerksamkeit auf sich, und zwar nicht nur, was Feuilletons oder den Boulevard-Journalismus betrifft, sondern beispielsweise auch im Hinblick auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit indischen Filmen. Nicht nur in Europa, sondern auch in Indien befassen sich Kulturanthropologen und Medienwissenschaftler bevorzugt mit Hindi-Filmen. Bollywood setzt die filmästhetischen, technologischen, musikalischen und vermarktungstechnischen Standards und nimmt für die anderen regionalsprachigen Filmstandorte auch dann die dominierende Rolle eines innerindischen Hollywoods ein, wenn etwa filmische Vorlagen aus dem Tamil- oder Telugu-Kino gekauft, neu adaptiert und zu gesamtindischen Kassenschlagern oder sogar zu internationalen Erfolgen werden. Durch das indische Phänomen der Mehrsprachigkeit ist es zwar möglich und kommt in der Praxis auch vor, dass ein und dieselben Schauspieler oder Regisseure maßgeblich an diesen "filmische Übersetzungen" mitwirken können, doch ist das nicht die Regel.

Die Frage, ob es "das" indische Kino angesichts dieser Vielfalt überhaupt gibt, erinnert an analoge Diskussionen in Bezug auf die indische Literatur. So könnte man auf die indische Filmlandschaft übertragen, was der Philosoph und indische Staatspräsident Sarvepalli Radhakrishnan (1888-1975) einmal im Zusammenhang mit der Gründung der nationalen Literaturakademie (Sahitya Akademi) formuliert hat, nämlich dass nur eine einzige indische Literatur existiere, auch wenn diese in verschiedenen Sprachen geschrieben werde. Schlicht und einfach deswegen, da es in Indien aufgrund seiner sprachlichen und kulturellen Diversität nicht die eine, "nationale" Literatur- und Filmsprache und entsprechende monolithische Vorstellungen literatur- wie filmgeschichtlicher Epochen und Traditionen geben kann. Und gerade angesichts grassierender Kulturnationalismen darf es diese auch nicht unwidersprochen geben.

Da die Diskussion um Einheit und Vielfalt in der Literatur wie auch im indischen Kino in letzter Konsequenz immer wieder zu der Frage führt, welche Vorstellung bezüglich der indischen Nation gelten solle, ist es also keinesfalls nebensächlich, ob man vom indischen Kino im Singular oder im Plural spricht. Wird die Vielzahl "indischer Kinos" als Ausdruck einer fragmentierten Nation betrachtet, so täuscht dies über die vielen gemeinsamen kulturellen und ästhetischen Bezugspunkte und Vorlieben hinweg, die indische Filme in allen Sprachen beeinflussen und diese über sprachliche Grenzen hinweg für ein gesamtindisches Publikum "verstehbar" machen.

Hält man sich weiterhin an "das" Kino im Singular, besteht wiederum die Möglichkeit, dass die vielen bedeutenden Filmstandorte Indiens - insbesondere Südindiens - im Abseits einer Bombay-zentristischen Wahrnehmung bleiben. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet vielleicht der Begriff "Filmlandschaft" Indiens anstelle von "Kino".

Muss Bollywood 'realistisch' sein?

In Indien werden zum Teil sehr hohe Erwartungen an das Medium Film gestellt. Die Frage, was es bewirken kann oder sogar sollte, wird intensiv diskutiert. Dies ist zunächst einmal der historischen Erfahrung des antikolonialen Befreiungskampfes und der postkolonialen Situation geschuldet. Viele Filmregisseure waren von der Idee überzeugt, dass nicht etwa das "elitäre" Autorenkino, sondern gerade kommerzielle Unterhaltungsfilme, die sich an ein möglichst breites Publikum richteten, aufklärerisches Potenzial besitzen und so zum Fortschritt der Gesellschaft beitragen könnten. Sie verstanden es als ihre Pflicht, soziale Missstände in ihren Filmen aufzugreifen und gesellschaftliche Utopien zu entwerfen. 3

Auch in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit lässt sich, nicht nur in Bezug auf das Kino, sondern etwa auch auf das neue Medium Fernsehen vielfach der mehr oder weniger explizite Anspruch erkennen, dass es in erster Linie um die "Entwicklung" des Landes gehen müsse, und nicht einfach nur um "Unterhaltung". Nach wie vor wird das Medium Film in einer potentiell edukativen Rolle gesehen, was immer dann mitschwingt, wenn Bollywood-Filmen vorgeworfen wird, "nicht realistisch", sondern vielmehr eskapistisch (und "kitschig", "schnulzig" et cetera) zu sein.

"Authentische" Geschichten über das Leben in Indien, ist häufig zu lesen, erzählten dagegen ausschließlich die filmischen Werke des New Indian Cinema beziehungsweise des indischen Autoren- und Dokumentarkinos. Vor diesem Hintergrund wird die indische Filmlandschaft immer wieder entlang der Trennlinie "realistisch/ authentisch" kategorisiert und bewertet, wenn "Kunst" von "Kitsch und Kommerz" abgegrenzt wird. Doch sind solche Unterteilungen wirklich sinnvoll, wenn es um die Annäherung und Würdigung der cineastischen Vielfalt Indiens geht?

Zunächst einmal müsste man die mit der Frage der Authentizität und Realitätsnähe verbundenen Vorstellungen doch selbst hinterfragen, denn von Filmen einzufordern, dass sie diese Kriterien erfüllen, würde zum einen voraussetzen, dass es eine objektive Realität gibt, die als solche filmisch "abgebildet" werden kann. Dies können jedoch nicht einmal Dokumentarfilme für sich in Anspruch nehmen, da auch sie zwangsläufig Wirklichkeit interpretieren und Ausschnitte derselben entsprechend in Szene setzen.

Zum zweiten müsste eine objektiv darstellbare Realität ja auch als solche erfahrbar sein, was eine Einheitlichkeit des Publikums und identische Vorstellungen über das, was Realität ist, voraussetzt. Gerade in Indien treffen wir dieses homogene Publikum jedoch mit Sicherheit nicht an. Im Gegenteil: Die fortschreitende Globalisierung sorgt dafür, dass die Unterschiede in den Lebenswelten der Menschen sich weiter vergrößern. Was gleichermaßen auf die wachsende Zahl von Individuen und Gruppen auf der ganzen Welt zutrifft, die aus den verschiedensten Gründen und Interessen heraus indische Filme sehen und damit zwangsläufig zunehmend als Zielpublikum für Filmproduzenten in Indien wahrgenommen werden.

Angesichts dieser Situation lässt sich immer schwerer bestimmen, an wessen Realität sich beispielsweise kommerzielle Hindi-Filme eigentlich annähern sollen. Auch wäre in diesem Zusammenhang auf den für demokratische Gesellschaften grundlegenden Konsens hinzuweisen, wonach die künstlerische Freiheit Filmschaffender im Umgang mit Themen, Narrativen und Darstellungsformen nicht durch die Maßgabe der Realitätsnähe (oder andere Vorgaben) beeinträchtigt, und die Qualität ihrer Arbeit keinesfalls anhand einer so zutiefst ambivalenten Kategorie wie der der Authentizität bemessen werden sollte.

Filmposter "Guru"
Filmposter zu "Guru" Foto: promo

Andererseits müssen Filme auch gar nicht realistisch oder realitätsnah sein, um dennoch etwas über Realitäten auszusagen, denn das tun Filme grundsätzlich, unabhängig von Genre und Grad der Kommerzialisierung. Betrachtet man beispielsweise den Film "Guru" des südindischen Regisseurs Mani Ratnam (2006) als "authentischen" Film über die Lebensgeschichte des umstrittenen Großindustriellen Dhirubhai Ambani, so kann man mit Recht danach fragen, wie realitätsnah dieser Film eigentlich ist. Auch ließe sich dann kritisieren, dass der Film nicht wirklich den "schmalen Grat zwischen Macht und Moral" thematisiert, obwohl er vorgibt, genau dies zu tun. Dafür erscheint die Figur des "Kunstfaserkönigs" zu offensichtlich in einem strahlenden Licht.

Eine ganz andere Frage wäre jedoch, was dieser Film möglicherweise über die Gegenwart bzw. die heutige Sicht auf die jüngere indische Geschichte aussagt. So kann man die Gerichtsszene am Ende des Films, in der sich der an Ambani angelehnte Protagonist selbst von allen Vorwürfen der Korruption sowie des systematischen Betrugs freispricht, und diese als einzig möglichen Befreiungsweg des mittelständischen Unternehmertums aus den staatlichen Bandagen des "Nehruvianismus" (das heißt der planwirtschaftlichen so genannten "mixed economy") darstellt, durchaus als Apologie der wirtschaftlichen Liberalisierung Indiens und der daraus folgenden (neo-)liberalen Wirtschaftsordnung verstehen.

Schließlich könnte man mit Blick auf die amerikanische oder europäische Filmlandschaften auch fragen, was denn überhaupt das Problem an der vermeintlichen oder tatsächlichen Realitätsferne von Bollywood-Filmen ist. Ist das Kino nicht überall und seit jeher ein Medium, dass sowohl bezaubern als auch entzaubern, unterhalten, aber auch informieren und aufklären kann? Die indische Filmlandschaft weist bekanntlich renommierte Vertreter auf, die all dies meisterhaft beherrschen und sich nicht in starre Kategorien von Formen und Genres einzwängen lassen. Dass dies nun zunehmend auch außerhalb Indiens wahrgenommen und mit Interesse verfolgt wird, ist sowohl für die indischen Filmschaffenden als auch für Filmliebhaber weltweit eine sehr erfreuliche Entwicklung.

 

Fußnoten

[ 1 ] Interview mit Shetty in: Galore 33, November 2007, S. 12.

[ 2 ] Im Jahr 2006 waren dies 243 Produktionen aus "Tollywood" und 223 Filme aus Bollywood. In ganz Indien werden pro Jahr ungefähr 800-900 Filme der unterschiedlichsten Genres produziert. Vgl. Jochen Reinert, "Tollywood überrundet Bollywood" in: Indien-Info 86, Vereins-Mitteilungen der Deutsch-Indischen Gesellschaft Berlin e.V., August-September 2007, S.2-3.

[ 3 ] Eingehend befasst sich Annemarie Hafner in ihrem Beitrag "Kino als Agens sozialen Wandels: Indische Filmregisseure im antikolonialen Umbruch (1935-47)" mit diesem Thema.

 

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Film in Südasien .

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