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21. August 2010. Analysen: Indien - Geschichte & Religion Die Entstehung eines Parteiensystems in Britisch Indien (I)

Demokratisierungsprozesse, damit die Entstehung offener Mehrparteiensysteme, tragen zur Entwicklung und deshalb notwendigerweise zur wachsenden Autonomie, Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit von Gesellschaften und der sie konstituierenden Gruppen bei. Aber nicht nur das Resultat dieses Prozesses, sondern auch seine Rahmenbedingungen, Antriebsfaktoren und Formen entziehen sich einem einfachen und verallgemeinerungsfähigen Erklärungsmuster.

Ein wichtiges, allerdings auf westliche Staaten und Gesellschaften zugeschnittenes Modell der Entstehung demokratischer Parteien und Parteiensysteme haben S. Lipset und St. Rokkan bereits 1967 vorgelegt. Vor dem Hintergrund spezifischer europäischer historischer Erfahrungen und Strukturen beschreibt das Modell die folgenden Rahmenbedingungen, Konfliktlinien und Zäsuren der Parteienbildung. Prozesse der Parteienbildung finden im Rahmen der nacheinander geschalteten Prozesse des Nation(state) Building und dem der massiven Industrialisierung statt. Es bestehen wie überall vielfältige Konfliktlinien und -potentiale, aber nur bestimmte lösen zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, am Ende stabile Parteien aus. Dabei zeigen sich im europäischen Kontext vier, typischerweise nachgeschaltete, Konfliktlinien: Es besteht zunächst eine zwischen expandierendem nationalen Zentrum und lokalen und regionalen, kulturellen und ethnischen Peripherien, verlaufende Konfliktlinie, die im Einzelfall regionalistische und ethnische Bewegungen und Parteien gegenüber Parteien einer nationalen Sammlung und Integration entstehen läßt.

Es zeigt sich sodann in all jenen Ländern, in denen eine nach wie vor universalistische, politisch und religiös dominierende Kirchenorganisation, also die katholische Kirche besteht - im Gegensatz zu den bereits nationalen protestantischen Kirchen - eine weitere Konfliktlinie: Diese verläuft zwischen einem expandierenden und laizistischen Staat, der das Monopol der katholischen Kirche auf Erziehung, ihren Einfluß auf das Rechtssystem und ihre gesellschaftliche Vorrangstellung bestreitet und einer defensiven katholischen Kirchenorganisation, die in wachsendem Maße Parallelorganisation und eine eigene, auf die Sicherung ihrer Einflußfelder und ihres Status ausgerichtete Partei hervorbringt. Eine solche Konfliktlinie und Parteientwicklung ist in jenen Staaten, in denen eine erfolgreiche protestantische Revolution zur Entstehung einer protestantischen Nationalkirche, einer Trennung staatlicher und kirchlicher Institutionen und einem auf religiöse Toleranz gegründeten gesellschaftlichen Konsens geführt hat, nicht gegeben.

Eine dritte Konfliktlinie verbindet sich mit dem Einsetzen der industriellen Revolution. Sie verläuft zwischen Agrar- und Industriesektor und sie läßt eigenständige Bauernorganisationen und "Agrarparteien" dann entstehen, wenn nationale Parteien oder Unternehmerparteien bäuerlichen Interessen nicht entsprechen oder Agrareliten nicht kooptieren können. Der Fortgang und die Vollendung von Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen begründet schließlich die Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit, Unternehmen und Lohnarbeitern und lässt zwangsläufig, wenn auch in unterschiedlicher Stärke und Konfliktintensität Gewerkschaftsorganisationen und Arbeiterparteien entstehen.

Selbst in dem scheinbar homogenen Milieu westlicher, sich konsolidierender und industrialisierender Staaten treten nicht alle Konfliktlinien auf - Katholizismus versus Protestantismus -, Konfliktpotentiale führen nicht zwangsläufig zu entsprechenden Parteibildungen und die entsprechenden Parteien werden von den jeweiligen Konfliktlinien nicht ausschließlich geprägt. Eine Abfolge gesamtgesellschaftlicher Konfliktlinien stellt damit Wahrscheinlichkeiten, aber keine Gewissheiten für eine entsprechende Parteibildung bereit. Hinzu tritt aber, dass diese Parteibildungsprozesse zumindest zwei dynamischen, also die generellen Rahmenbedingungen laufend umgestaltenden Zusammenhängen ausgesetzt bleiben: Die bereits entstandenen, von einem jeweiligen Ancien Régime bekämpften oder tolerierten politischen Bewegungen und Parteien, also die jeweiligen "Insider" determinieren die terms of trade, also die Chancen, Marktnischen und Spielregeln für die jeweils zu spät gekommenen. Das politische System selbst, also das Wahlrecht, das Wahlsystem, die Struktur von Parteien und die demokratischen Spielregeln befinden sich noch in der Entwicklung: Das bedeutet, auf die Parteien gemünzt, dass diese Insider wie Outsider den Systemausbau einerseits mit gestalten und andererseits beständig und umfassend von diesem selbst geprägt werden.

Mit anderen Worten, selbst kleine Unterschiede in den historischen Ausgangsbedingungen zu denen diese Parteibildungsprozesse einsetzen, verbunden mit der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Auswirkung der vier Konfliktlinien, mußten auf Dauer selbst in Westeuropa höchst unterschiedliche demokratische Herrschaftsformen ebenso wie Parteisysteme hervorbringen. Diese, gemessen an der Differenziertheit der Ausführungen von Lipset und Rokkan, stark verkürzenden Vorbemerkungen sind notwendig, um deutlich zu machen, dass das angesprochene Modell selbst im scheinbar überschaubaren europäischen Kontext den Prozess der Parteibildung zwar interpretieren, aber nicht als Determinismus rekonstruieren kann. Bei einer Übertragung des Modells in die außereuropäische Welt, hier in das koloniale und postkoloniale Indien, zeigt sich nun neben der "Unterdeterminiertheit" des Modells ein weiteres Problem: Das Modell setzt historische Ausgangsbedingungen - den europäischen Territorialstaat -, Entwicklungsprozesse - "Nation Building" und Industrialisierung - und gesellschaftliche Strukturen - Amtskirche, Nation - voraus, die in einem kolonialen Rahmen nicht gegeben sind oder hier zwangsläufig zu anderen Wirkungen führen. Der Tatbestand der kolonialen Unterwerfung erweist sich also als tiefgreifend: Er schließt die Existenz bestimmter Strukturen aus oder gibt ihnen eine andere Funktion. Das Modell wird damit mit Rahmenbedingungen und Entwicklungen konfrontiert für das es nicht geschaffen wurde. Das macht aber eine Interpretation indischer, kolonialer und nachkolonialer Parteibildung im Lichte des Modells keineswegs unsinnig. Die Übertragung in einen kolonialen und nachkolonialen Kontext kann vielmehr dazu beitragen, wesentliche Elemente des Modells so zu reorganisieren, dass außereuropäische Parteibildungsprozesse interpretiert werden können und deren Unterschiedlichkeit gegenüber europäischen bestimmt werden kann.

Britisch Indien

Die schiere Größe und die enorme religiöse, kulturelle, ethnische und soziale Vielfalt des Subkontinents, unterschiedliche vorrangig regional konsolidierte Staatsformen und Geschichtstraditionen und der Tatbestand und die Form der kolonialen Erfassung Indiens mußten hier eventuellen Parteibildungs- und Demokratisierungsprozessen eine eigenständige Gestalt und Dynamik geben. Der Subkontinent, traditionell von Dutzenden von Regionalreichen beherrscht und politisch wie kulturell von diesen geprägt, wird von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von einer britischen Monopolhandelsgesellschaft, der East India Company, zu weiten Teilen militärisch erobert oder auf dem Verhandlungs- und Amtsweg annektiert. Die militärische und administrative Fassung bleibt aber unvollständig, da 3/5 des Territoriums und 2/5 der Bevölkerung Südasiens, die sogenannten "Princely States" außerhalb des britischen Herrschaftsbereiches bleiben. Nach dem "großen Aufstand" von 1857/1858 bis zur Unabhängigkeit und Teilung des Subkontinents 1947 tritt die "British Raj" an die Stelle der "Company Raj" und die britische Beamtenelite legt von nun an die Rahmenbedingungen fest, innerhalb derer ein bürokratisches und technisches State Building, ein kolonial toleriertes ebenso wie manipuliertes Nation Building, Prozesse der sozialen und politischen Mobilisierung, schließlich der Parteibildung und einer Demokratisierung von oben vorangetrieben oder gesteuert werden.

Eine an Lipset/Rokkan orientierte Einschätzung dieser jetzt nachhaltigen Modernisierungsprozesse müsste erwarten, dass zunächst Prozesse einer infrastrukturgestützten, bürokratischen und zentralisierenden Territorialerfassung regionale, sei es ethnische oder religiöse Abwehrhaltungen und Widerstandsbewegungen auslöst. Diesem Prozess folgt im Maßstabe der Durchsetzung eines nicht nur kontrollmächtigen, sondern laizistischen Staates die Gegenwehr großer organisierter Glaubensgemeinschaften und in dem Maße, in dem Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse auftreten, folgt dieser Mobilisierung, Organisation und Interessenartikulation diejenige von Agrareliten oder ländlichen Magnaten und am Ende ein industrielles (Lumpen)proletariat. Weder dieser Abfolge, noch diese einfachen Wirkungszusammenhänge sind aber in Britisch Indien gegeben. Die Größe und Heterogenität Indiens, das späte Einsetzen und damit die fortlaufende Gleichzeitigkeit der Prozesse, die relative Bedeutungslosigkeit von Urbanisierung und Industrialisierung und der immer ausschlaggebende Tatbestand kolonialer Beherrschung - also der unübersehbare Interessen- und Identitätsgegensatz zwischen Herrschern und Beherrschten - verhindern eine einfache Prozessabfolge und sie gestalten die eventuellen Wirkungszusammenhänge neu und unvorhersehbar.

Die Größe Britisch Indiens bringt es unter anderem mit sich, dass die Kontroll- und Zentralisierungstendenzen nicht von einem kolonialen Zentrum, Calcutta, später Neu Delhi, sondern vorrangig von den Zentren der administrativen Großeinheiten, der "Presidencies" ausgehen. Regionale, ethnische oder religiöse Widerstandsbewegungen und später Parteien gewinnen damit eine Doppelfunktion. Während sie auf der gesamt-indischen Ebene als Abwehrreaktion gegenüber zentralisierenden Erfassungs- und Modernisierungsprozessen gelten können, können sie in den einzelnen Presidencies, Provinzen, als bewußt oder unbewußt vorangetriebene Prozesse eines etwa bengalischen oder tamilischen Nation Building eingeschätzt werden. Als Prozess eines regionalen Nation Building werden sie damit den Widerstand noch kleinerer ethnischer Gemeinschaften oder Subregionen wecken. Die Größe Britisch Indiens, vor allem seine Heterogenität, also das Vorherrschen der kleinen vor den großen Traditionen, bewirken zudem, dass die Durchsetzung eines über den religiösen Gemeinschaften stehenden laizistischen Staates keine oder zumindest ganz unterschiedliche Reaktionen auslöst. Hinduismus und Islam sind keine bürokratischen, amtscharismatischen Organisationen.

Sie zerfallen in zahllose lokale und soziale Milieus, deren Mitglieder mit den jeweils fremdgläubigen Nachbarn mehr gemeinsam haben, als dem Glaubensbruder in einer anderen Region. Hinzu tritt, dass der Hinduismus aufgrund seiner, gemessen an einer katholischen Amtskirche, Organisationsschwäche immer zur religiösen Toleranz verpflichtet war, eine Adaptionsstrategie bei dem ihm der indische Islam weitgehend gefolgt ist. Eine koloniale Fremdherrschaft, die aus Gründen der Herrschaftsbewahrung sich auf einen im Wesentlichen passiven, einen aktiven Säkularismus verpflichtet, löst damit keine zwingende und eindeutige Gegenwehr aus. Zeigen sich dennoch religiöse - reformerische, restaurative oder fundamentalistische - Mobilisierungen, so sind es Minderheitenbewegungen, die von keinem Laizismus, sondern dem Grundtatbestand der kolonialen Fremdherrschaft und Überlegenheit ausgelöst werden. Diese Bewegungen setzen darauf, ihre jeweilige Hindu- oder Muslimgemeinschaft so modernisieren und organisieren zu können, dass am Ende eine eventuelle Hindu- oder Muslimnation den Kolonialherren gleichberechtigt zur Seite oder an deren Stelle treten kann. Eine fundamentale ökonomische Modernisierung - die Durchsetzung der Geldwirtschaft, eines Bodenmarktes, der Warenwirtschaft - aber keine massive Industrialisierung und weitreichende Urbanisierung läßt aufgrund der Größe Indiens und der kolonialen Rahmensetzung wiederum andere soziale und politische Reaktionen, Identitätsbestimmungen und Organisationen entstehen: England will in Britisch Indien Industrieprodukte absetzen, es kann und will auf dem Subkontinent keine Industrialisierung auslösen.

Damit fehlt auch das räumliche, soziale und kulturelle Korrelat eines solchen Prozesses, eine massive Urbanisierung. Eine begrenzte Industrialisierung geht überwiegend von hinduistischen Händlerfamilien und -kasten aus, sie stützt sich aber auch auf Kapital, das die britischen Agency Houses bereitstellen und das zum Aufbau eines Bergwerks- und Teeplantagensektors mit beiträgt. Die Kolonialmacht löst lediglich eine, ihren Herrschaftsimperativen entsprechende, begrenzte Urbanisierung aus: Mit den Kolonialzentren Calcutta, Madras, Bombay, Neu Delhi, entstehen im Wesentlichen ex nihilo "Primate Cities" von denen aus Britisch Indien erfaßt, beherrscht und der Warenaustausch organisiert wird. Auf der Distriktebene schließlich stützt sich die Herrschaft auf die "Kutchery Towns", die Distriktzentren, zumeist ehrwürdige Klein-, Tempel- oder Residenzstädte. Der schwachen Urbanisierung und Industrialisierung müßte damit, so eine plausible Erwartung, eine ebenso schwache oder fehlende Konfliktlinie zwischen organisiertem Industrieunternehmertum und Agrariern und zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegenüberstehen. Organisierte und eventuell einflussmächtige Agrarlobbies, -organisationen und Parteien müßten ebenso fehlen, wie starke Gewerkschaften und kommunistische oder sozialistische Parteien.

Auch hier zeigt sich wiederum die Größe und Komplexität Indiens, vor allem aber das Fundamentaldatum der Kolonialisierung, neue Kontexte ausbilden und andere Wirkungszusammenhänge auslösen. Der westliche Territorialstaat kann sich im Prozess administrativer Expansion und bürokratischer Konsolidierung auf eine Vielzahl alter und immer wieder neuer Träger, Eliten und Klientelgruppen stützen. Nicht so der koloniale Staat, insbesondere einer von der Größenordnung Britisch Indiens. Koloniale Herrschaft läßt sich angesichts der winzigen Zahl britischer Beamten hier nur ausweiten und konsolidieren, wenn eine mehrheitlich aus Einheimischen rekrutierte und in die Tiefe der Distrikte reichende Kolonialbürokratie errichtet wird und wenn, weitaus bedeutsamer die Masse der traditionell ständischen und regionalen Eliten Indiens bereit ist, die koloniale Herrschaft zu ertragen, zu tolerieren und zu nutzen. Diese Eliten sind aber in dieser fast größten und ältesten Bauerngesellschaft und -kultur Asiens überwiegend Agrareliten. Die auf Berechenbarkeit und Stabilität, nicht vorrangig auf Entwicklung und Effizienz angewiesene Kolonialverwaltung hat von Anfang an den Interessenausgleich mit diesen Eliten angestrebt, sie hat den Meinungsaustausch mit diesen Elitenvertretern kultiviert und sie in das System der Verwaltung und der politischen Beratung kooptiert.

Im gleichen Atemzuge hat sie die Ausbildung von entsprechenden Organisationen und Parteien mit unterstützt. Regionale Agrarierverbände entstehen damit nicht in Abwehr einer bedrohlichen Industrialisierung, Urbanisierung und neuer Interessenlagen und Organisationen. Sie entstehen, weil dominante Kasten, ländliche Magnaten und Großgrundbesitzer ihre Macht und ihr Einkommen im Schatten der Kolonialmacht maximieren wollen und weil die Kolonialmacht ihre wichtigsten Ansprechpartner und Stabilitätsgaranten organisiert sehen möchte. Im Gegenzug entstehen kleine, aber wort- und einflussmächtige Unternehmerorganisationen einerseits in Abwehr der Dominanz dieser Agrarverbände, andererseits aus eben den gleichen Kalkülen: Auch diese Industrie- und Handelsunternehmer wollen ihre Stellung absichern und ausbauen und die Kolonialmacht will diese für die Infrastruktur, den Warenaustausch und die fiskalische Entwicklung der Städte unverzichtbare Minderheit organisiert sehen. Vergleichbares gilt für die in den Industrieenklaven der "Primate Cities" entstandenen kleinen und oft zersplitterten Gewerkschaften. Sie sind numerisch bedeutungslos, aber ihre Präsenz in den kolonialen Zentrumsstätten und der Tatbestand, dass sie in einem kolonialen Herrschafts- und Wirtschaftssystem auftreten, kompensiert für ihre numerische Bedeutungslosigkeit: Die Kolonialmacht, die, was ihre Autorität und Machtfülle betrifft, sich auf die Agrarelite stützen muß, stützt sich bezüglich ihrer physischen Präsenz, administrativen Effizienz und militärischen Gewalt auf die Städte.

Der koloniale Kontext, die Zwänge der kolonialen Herrschaftssicherung, führen zu einer Situation, in der die in der Konfliktlinie Kapital versus Arbeit auskristallisierten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, obwohl statistisch unbedeutend, strategisch bedeutsam werden. Vier, das Lipset/Rokkan-Modell konstituierende Prozesse - territoriale Erfassung, Durchsetzung eines Laizismus, Urbanisierung und Industrialisierung - treten damit in Britisch Indien nicht nur unvollständig und verzögert, sondern immer durch die Größe Indiens und die koloniale Herrschaftssituation abgewandelt auf. Die Wirkungen, die von den vier Prozessen bezüglich einer politischen und sozialen Mobilisierung und Organisationsbildung ausgehen, sind deshalb, verglichen mit dem Lipset/Rokkan-Modell anders, widersprüchlich oder zumindest unvorhergesehen.

Ein ideales, allerdings auch in Westeuropa selten vorliegendes Ablaufmodell hätte parallel zur Konfliktlinie Zentrum versus Peripherie eine nationale Sammlungsbewegung und im Gegenzug ethnische und regionalistische Gegenbewegungen, mit der Konfliktlinie Staatslaizismus versus organisierte Religionsgemeinschaften eine politische laizistische Bewegung und auf der Gegenseite defensive oder offensive Kirchenparteien entstehen lassen müssen. Entsprechend der Konfliktlinie Urbanisierung und städtisches Unternehmertum versus Agrarsektor und Agrarinteressen wären spezifische bürgerliche und unternehmensorientierte Parteien einerseits und Verbände der Bauern und Magnaten andererseits entstanden. Mit der durch den Fortgang der Industrialisierung entstandenen vierten Konfliktlinie Industriekapital versus Industriearbeit wären schließlich Interessenverbände und Parteien der Arbeitgeber einerseits und der Arbeitnehmer andererseits entstanden.

In Indien aber fehlt sowohl diese Sequenz als auch der auf jeder Stufe operierende Zwang der wechselseitigen Interessenabgrenzung und spezifischen Interessensbestimmung. Es ist deshalb vor einem Hintergrund gleichzeitiger sowohl isolierter als auch verbundener sozialer und politischer Modernisierung und Mobilisierung das im Folgenden die Bildung von Interessenorganisationen, die Entstehung der Unabhängigkeitsbewegung, der Ablauf eines kolonialen Demokratisierungsprozesses und am Ende die Entstehung von Parteien geschildert werden soll.

Die Kolonialmacht, die Nordindien nach dem großen Aufstand mühsam zurückerobert, liquidiert nicht nur den Anachronismus der Company Raj und macht Indien zur Kronkolonie, sie leitet aus dem Aufstand auch verschiedene für die Zukunft handlungsleitende Herrschaftsmaximen ab. Da die Kolonialmacht davon überzeugt ist, dass die Muslime vorrangig für den Aufstand verantwortlich waren, und weil sie glaubt, dass die Muslime im Gegensatz zu den Hindus fortdauern einem Glauben anhängen, der es ihnen verbietet, gegenüber fremdgläubigen Herrschern - also außerhalb eines Dhar Ul Islam - vollständig loyal zu sein, so optiert die Kolonialmacht jetzt für eine gesonderte, die Muslime absondernde Behandlung dieses Fünftels der indischen Bevölkerung. Nachdem sie zunächst marginalisiert werden, wird der Muslimelite seit 1870 besondere Förderung zuteil. Indien gilt nicht mehr als Heimstätte hunderter von Einzelgemeinschaften und Sekten, Kasten und Regionalgruppen, über deren friedlichen Umgang und Austausch die Kolonialmacht zu wachen hat, Britisch Indien gilt vielmehr jetzt als die Heimat zweier Nationen, der Hindus und der Muslime, deren Interessen nicht harmonieren können und sollen. Die beiden Nationen, "separate but equal" sollen von der Kolonialmacht in der Balance gehalten werden, damit die Kolonialherrschaft nicht noch einmal durch den gemeinsamen Aufstand einzelner Sektionen beider Gruppen erschüttert wird. Die Kolonialmacht ist des Weiteren davon überzeugt, dass eine Serie rascher, im Kern laizistischer, menschenrechtlicher oder sozialer Reformen mit zu dem großen Aufstand beigetragen hat. Diese Reformen hatten ihrer Meinung nach gerade jene religiösen, politischen und agrarischen Eliten zutiefst verunsichert, auf deren Konsens sich die Britisch Raj unbedingt stützen muss. Reformen sollen deshalb künftig nicht vermieden werden, aber sie sollen sich auf Ziele ausrichten, bei denen eine Interessenkonvergenz zwischen Kolonialmacht und Agrarelite gesichert werden kann.

Dies und die generelle Sicherung eines Herrschaftskonsenses zwischen den ländlichen Eliten und der Kolonialmacht setzen neue Formen der Kontaktnahme, Beratung und Elitenkooptation voraus. Die Kolonialmacht öffnet jetzt fast alle Beratungsgremien auf distrikt-, provinz- und gesamtindischer Ebene für sogenannte "Appointed Members". Ernannt werden "Native Gentlemen", die für eine jeweils führende Kaste oder strategische Interessengruppe sprechen können, die über einen angemessenen Grad westlicher, zumeist juristischer Bildung verfügen und die insgesamt als loyal gelten. Die Kolonialmacht weiß aber auch seit dem Aufstand, dass es nicht ausreicht, einzelne Vertreter lokaler Kasten und Interessenvereinigungen zu hören, dass es vielmehr darauf ankommt, die großen agrarischen Interessengruppen regional, auf der Ebene einer ganzen Presidency und dabei sowohl kasten- wie religionsübergreifend zu organisieren. Nur so kann sie sich auf das Gewicht der Meinungen verlassen und sich auf eine Organisation stützen, die ihre jeweiligen Gesetze und Reformen stützt oder zumindest toleriert. Der Ausbau von Eisenbahnen, Post und Telegrafen, die Zunahme der "Liberal Professions" und der für sie notwendigen westlichen Bildung, die Begründung von Kastenhotels, Zeitungen, die Ausbreitung eines formal-britischen Vereinswesens, alle diese Entwicklungen haben aber seit der Jahrhundertmitte dazu beigetragen, dass zumindest innerhalb der Presidencies Netzwerke von Klein-, Verwaltungs-, Markt- und Zentralstädten entstanden sind, in denen sich eine regionalsprachige oder anglophone Provinzelite begegnet und für bestimmt Zwecke organisieren kann. Diese Organisationsneigung geht in zwei, in eine von der Kolonialmacht begrüßte und in eine eher beargwöhnte Richtung. Die größten Grundbesitzer und Grundsteuerpächter - die Radschas, ländlichen Magnaten und "Absentee Landlords", aber auch Führer dominanter Kasten - gründen formal kasten- und religionsneutrale Verbände, mit deren Hilfe sie Einfluss auf eine Gesetzgebung nehmen wollen, die eventuell ihre lokale Machtbasis untergräbt.

Obwohl viele Mitglieder ihren ausgedehnten Besitz allein der machtpolitischen Entscheidung der East India Company verdankten, Grundsteuerpächter durch Federstrich zu Großgrundbesitzern zu erheben, gelten sie in den Augen der britischen Beamtenelite als „born to rule“ und als unverzichtbares Fundament der Kolonialherrschaft. Mit geringer Sympathie können die zahlreichen Interessenvereinigungen aber auch Kulturorganisationen städtischer gebildeter und der "Liberal Professions", der Richter, Anwälte, Ärzte, aber auch Händler dagegen rechnen. Diese Vereinigungen werden getragen durch die gebildeten anglophonen Mitglieder der eigenen Kolonialbürokratie, die entsprechend den Verwaltungszwängen und Entwicklungsaufgaben immer weiter anwächst. Vor allem das koloniale Rechtssystem hat mit seinen Gerichtshöfen und Verwaltungsstätten neue Machtarenen, Einflusspfründe und Berufe geschaffen, in die die traditionellen Bildungsschichten und oft der Nachgeborene einer Großgrundbesitzerfamilie drängen. Die zunehmende Organisations- und politische Artikulationsbereitschaft eines Personals, das erst im Schatten der britischen Kolonialdurchdringung entstanden und notwendig geworden ist, erfüllt die britische Kolonialelite eher mit Abscheu: Diese "braunen Herren", "Brown Sahib's", verfügen über keine traditionell legitimierte Stellung, kein Land und keine ländlichen Gefolgschaften. Sie sprechen damit nur für sich und tragen unter den Schlagworten des "Improvement", der "Education" und des sozialen "Up-lift" - weniger der "teeming masses of India", als ihrer eigenen Familien - Unruhe in eine paternalistische Verwaltung. Die Kolonialmacht ist aber klug genug, um zu wissen, dass sie diese in und um ihren Apparat entstandenen Interessengruppen nicht verbieten kann, sondern steuern muss.

Es ist in dieser Situation einer zunehmender Organisation der einflussstarken Großgrundbesitzinteressen und der Artikulation städtisch gebildeter, einheimisch-bürokratischer und merkantiler Einzelinteressen, dass 1885 eine erste lose, aber im Anspruch gesamtindische politische Interessenvereinigung gegründet wird, der All India Congress. Die Gründung war ursprünglich von einem hochrangigen britischen Mitglied der Kolonialverwaltung selbst angeregt worden. Octavio Hume hoffte, eine solche Vereinigung könne einen berechenbaren und konstruktiven Dialog und Meinungsaustausch zwischen den gesamt-indisch legitimierten und sichtbaren indischen Interessenvertretern und Autoritäten und der Kolonialmacht etablieren. Diese Erwartung erweist sich als richtig und es ist gerade dieser Erfolg, der zugleich, je nach Standpunkt, den Beginn eines genuinen Unabhängigkeitskampfes entweder 30 Jahre lang verhindert oder aber langsam und unmerklich vorbereitet.

Der All India Congress kristallisiert sich während des jeweiligen Jahrestreffens, einem großen gesellschaftlichen Ereignis in einer der führenden Städte Indiens für wenige Tage aus. Über eine bürokratische Organisation, eine Parteizentrale oder berechenbare Mitgliederdisziplin oder -beiträge verfügt der Kongress nicht. Seine lose Struktur, sein "Ereignischarakter" und seine in neuer Symbolik, nicht in seiner Aktivität gegründete Langlebigkeit machen es aber möglich, dass eine Vielzahl von regionalen Einzelpersönlichkeiten und Organisationen auf ihn hin gravitieren und dass Rivalitäten und Konflikte in regionalen Einzelorganisationen zunehmend unter Berücksichtigung des Stellenwertes der Konkurrenten in der Dachorganisation entschieden werden. Die Jahrestreffen und die eher symbolische Mitgliedschaft geben dem aus den unterschiedlichsten lokalen und regionalen, sozialen und professionellen Milieus, aber immer aus den höheren Kasten entstammenden anglophonen Aktivisten zum ersten Mal eine gesamtindische Identität. Es fehlen aber die führenden Muslime. Die vor allem auf das Kernland Indiens, das Hindustan, Uttar Pradesh konzentrierte Muslimelite, hat sich seit 1908 in enger Absprache mit und unter Erwartung seitens der Kolonialmacht eine eigenständige politische Plattform geschaffen: die All India Muslim League. Damit sind zwei rivalisierende, aber unterschiedlich starke und repräsentative Honoratiorenbewegungen bereits vor dem Einsetzen des Unabhängigkeitskampfes und der Parteibildung entstanden.

Beides setzt endgültig, aufgrund einer unvorhersehbaren Kette von Ereignissen und Entscheidungen, während und unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg ein. Britisch Indien hat die britischen Kriegsanstrengungen politisch, militärisch und wirtschaftlich in starkem Umfange unterstützt. Diese Loyalität der einheimischen Elite und des Kongress gilt es nach Auffassung der Kolonialmacht zu honorieren und so beginnt sie bereits vor Ende des Krieges mit der Vorbereitung einer ersten Dyarchie, Doppelherrschaft genannten Reformmaßnahme. Das Projekt sieht vor, auf der Ebene der Provinzen, nicht des Zentrums, einer winzigen wirtschaftlichen und gebildeten Elite, rund 3 % der Bevölkerung, eine politische Mitbestimmung einzuräumen. Dyarchie wird die Reform deshalb genannt, weil auf der einen Seite gewählte Landesparlamente von nun an eine Provinzregierung stellen sollen, diese Provinzregierung kontrolliert aber lediglich einflussstarke und für die Landesentwicklung und die Parteienpatronage ausschlaggebenden Ministerien, während die herrschaftsstrategischen Ressorts, vor allem Justiz, Finanzen und die Kontrolle über den Polizeiapparat nach wie vor von dem britischen Gouverneur ausgeübt werden. Nichts liegt den Begründern dieser Reformmaßnahme ferner, als eine künftige Unabhängigkeit Indiens.

Die Doppelherrschaft zielt vielmehr darauf, die für die Kolonialmacht strategischen Eliten stärker in die Verantwortung zu ziehen, ihnen neue Felder des politischen und wirtschaftlichen Engagements und der Patronage zu öffnen und diese Gruppen eventuell gegenseitig auszuspielen. Ohne es vorauszusehen, bringt die Kolonialmacht aber durch diese Demokratisierung von oben einen Prozess in Gang, der insbesondere durch die Rückkehr Gandhis und dessen Umwandlung des Kongress von nun an beständig radikalisiert wird und 30 Jahre später in die Unabhängigkeit mündet. Noch während des Krieges war Gandhi aus Südafrika nach Indien zurückgekehrt und von der Kongresselite eher mit Bangen als mit Begeisterung empfangen worden. Seitdem hatte er erfolglos einen Interessenausgleich zwischen Kongress und der Muslimliga im Rahmen des sogenannten Lucknow-Paktes zu erzielen gesucht und im Rahmen der sogenannten Khilafat-Agitation hatte er auf Dauer ebenso erfolglos versucht, die wachsende Kluft zwischen orthodoxen Muslimen und dem überwiegend hinduistischen Kongressanhängern zu überbrücken. Gandhi hat seine Strategie des zivilen Ungehorsams den besonderen Bedingungen des Subkontinents inzwischen angepasst und sich eine nur ihm eigene gesamtindische Autorität, eigene Finanziers, Gefolgsleute und Hausmacht gesichert. Er kann deshalb sowohl von außen wie von innen auf den noch immer lose organisierten Kongress einwirken. Gandhi lehnt das britische Reformwerk ab und fordert stattdessen in einem ersten gesamtindischen "Satyagraha" die sofortige Unabhängigkeit.

Die Agitation bricht zwar nach wenigen Monaten zusammen, aber Gandhi hat der zerstrittenen und handlungsunfähigen Kongresselite und der Kolonialmacht nun bewiesen, dass er der einzige Führer von gesamtindischer Statur ist, der Mitglieder der unterschiedlichsten Sprach-, Regional- und Kastengruppen hinter das Ideal der Unabhängigkeit, einer politisch und religiös gefärbten "Selbstherrschaft", Swaraj, scharen kann. 1920 gibt Gandhi auf der Grundlage einer Serie von Reformmaßnahmen dem Kongress eine sowohl bürokratische wie demokratische Satzung und Organisationsstruktur, es dauert allerdings noch Jahre und verschiedene gesamtindische Satyagraha-Bewegungen, bevor sich diese Bürokratisierung und Demokratisierung des Apparates bis auf die Ebene der Distrikte oder Kleinstädte durchsetzt. Damit ist der Kongress die erste und über Jahrzehnte hinweg einzige politische Organisation, die über einen gesamtindischen Charismaträger, eine indienweite politische Mobilisierungschance und Mechanismen der internen Konfliktbewältigung verfügt. Damit fällt ihr wie von selbst die Führungsrolle im Unabhängigkeitskampf zu und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kann sie die Verhandlungsrunden mit der Kolonialmacht auf indischer Seite dominieren und damit den Prozess einer "Demokratisierung von oben" vorantreiben und für sich nutzbar machen. Dieser, sich über fast drei Jahrzehnte erstreckende Prozess stellt den Kongress vor immer wieder neue Probleme.

Der Kongress muss sich intern konsolidieren, er muss seine dominante Verhandlungsstellung vis-à-vis der Kolonialmacht fortwährend verteidigen und er muss die zwangsläufig zentrifugalen Tendenzen, hervorgerufen durch seine Massenmobilisierungen, immer wieder zurückdrängen und schließlich die mächtige Großgrundbesitzer, gegen die er im Rahmen seiner Agitation antiimperialistisch Front macht, um die Masse der verarmten Bauern zu gewinnen, in seiner Organisation halten. Auf diesen fortwährenden und nie unter seiner alleinigen Kontrolle stehenden Balanceakt des Kongress kann im Folgenden nicht eingegangen werden. Im Lichte des Lipset/Rokkan-Modells soll aber zumindest gezeigt werden, welche Wirkungen von der politischen Vorrangs- und expansiven Mittelpunktstellung des Kongress auf die Entstehung des indischen Parteienspektrums ausgingen. Der Kongress beteiligt sich schließlich trotz der anfänglichen Gegnerschaft Gandhis an den unter der Dyarchie durchgeführten Wahlen sowie vorbehaltlos an den zwei, unter einem erweiterten Reformwerk seit 1936 durchgeführten Wahlen. Im Rahmen dieses zweiten Reformwerks, des "Government of India Acts" erhält rund 1/5 der erwachsenen indischen Bevölkerung bereits das Wahlrecht und die Parteien, also die von ihnen gestellten Provinzregierungen erlangen jetzt die volle Entscheidungsgewalt über alle, den Provinzen zustehenden Ressorts.

Der Kongress operiert damit gleichzeitig außerhalb, auf der Grundlage immer wieder neuer Agitationskampagnen und innerhalb des von der Kolonialmacht ausgelösten, aber bald nicht mehr zu kontrollierenden Demokratisierungsprozesses. Im Ablauf und aufgrund dieses Prozesses kann er seine Vorrangstellung durch Stimmengewinn unter Beweis stellen und durch Machtausübung beständig ausbauen. Der Kongress kann aber trotz seiner Fähigkeit zu ideologischer Expansion, Toleranz und Integration nicht verhindern, dass außerhalb seiner Organisation alte Konkurrenten fortbestehen, neue sich bilden oder im Einzelfall eigene Fraktionen sich zu eigenen Parteien temporär oder auf Dauer verselbständigen. Die vier, von Lipset/Rokkan für Parteibildungen konstitutiven Konfliktlinien werden dabei, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung und unerwarteter Konstellation für den Kongress zu einem Integrationsproblem. Im Folgenden soll die Entwicklung des Kongress und die Entstehung weiterer Parteien entlang der vier Konfliktlinien des Lipset/Rokkan-Modells dargestellt werden.

1. Konfliktlinien: Zentrum versus Peripherie

Der Kongress ist eine nationale und antikoloniale Sammlungsbewegung. Er muss also bei allen Provinzwahlen und gegenüber der Kolonialmacht unter Beweis stellen, dass er die eine und religiös ungeteilte indische Nation repräsentiert. Er ist aber in erster Linie in Nordindien, vor allem in den United Provinces, dem heutigen Uttar Pradesh, und seit dem Aufstieg Gandhis in Gujarat konsolidiert. Seine seit 1920 zunehmende Präsenz und Mobilisierungskraft können, sie müssen allerdings nicht, in den übrigen Regionen eventuelle Abwehrreaktionen und Gegenbewegungen auslösen. Der Kongress muss diese Oppositionen, ihre Forderungen, Politik oder Regionalidentitäten marginalisieren, absorbieren oder plagiieren, will er seinen nationalen Alleinvertretungsanspruch nicht gefährden. In jeder der Presidencies stellt sich das Problem anders:
In Südindien, in der Madras-Presidency, hat sich seit dem Ersten Weltkrieg ein traditioneller tamilischer Regionalismus und neuer Anti-Brahmanismus politisch organisiert. Eine "Justice Party", getragen von nicht-brahmanischen Radschas und Honoratioren ist entstanden, die den Brahmanen ihre dominante Stellung im Kolonialdienst neidet, Angst hat, künftig vom Kongress marginalisiert zu werden und deshalb gegen den Kongress als eine von Nordindien und Brahmanen dominierte Partei polemisiert. Der Kongress kann zwar diese aufgrund exzessiver Korruption und Patronage zerfallende Honoratiorenpartei rasch marginalisieren, aber das ideologische Antriebsmoment, die Abwehr der vorgeblich den Süden bedrohenden nordindischen "Banja-Brahmin-Allianz", kann vom Kongress nicht absorbiert, entpolitisiert und zum Aufbau einer eigenen "südindischen" Authentizität und Wahlkampffolklore verwendet werden. Eine neue, nach dem Vorbild des Kongress massendemokratisch organisierte, aber regionale Partei, wird diesen Tamil-Nationalismus später nutzen, und nach der Unabhängigkeit dem Kongress in Tamil Nadu die Macht entreißen.

In der größten, bevölkerungsreichsten und lange Zeit strategisch entscheidenden Bengal Presidecy liegen die Probleme wiederum anders. Die aus Schreibern und Brahmanen gebildete Intelligenzija und einheimische Beamtenschaft hat sich seit dem 19. Jahrhundert als Avantgarde einer nicht nur bengalischen, sondern indischen kulturellen und politischen Erneuerung gesehen. In dem Maße, in dem sie einsehen musste, dass nicht sie, sondern die einflussreichen Anwälte und Magnaten Nordindiens am Ende gar ein hindi-sprechender und volkstümlicher Gandhi den Kongress dominierten, hatte sich diese "Bhatra-Lok" genannte Intelligenzija vom Kongress abgewandt und ihre Unterstützung regionalen Parteien und einer stabilen regionalen Parteienkoalition zugesichert. Da in Bengalen der religiöse Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen von einer gemeinsamen Bengali-Identität noch lange Zeit überwölbt wird, gelingt es deshalb einer bengalischen Parteienkoalition, bis kurz vor den letzten kolonialen Wahlen, 1946, die regionale politische Arena zu dominieren und der Eskalation von kommunalistischen Massakern zwischen Hindus und Muslimen entgegenzutreten. Der frühzeitig politisch radikalisierten bengalischen Intelligenzija erscheint der Konstitutionalismus des Kongress anachronistisch und die religiös eingefärbte Satyagraha-Strategie des "Mahatma" als wirkungslos. Die in den 20er Jahren in Bengalen von einem Bengalen gegründete Communist Party of India erscheint den Extremisten innerhalb dieser Gruppe sehr rasch als eine sowohl effektivere als auch regional ansprechendere Alternative. Im Rahmen oder im Schatten des regionalen Parteienbündnisses etabliert sich die kommunistische Partei deshalb frühzeitig als eine sowohl sozialistische als auch regionale Partei, die sich fast bis heute auf eine grundbesitzende linksorientierte Intelligenzija stützt.

Wiederum eine andere Kräftekonstellation findet sich in dem in ökonomischer wie in militärischer Hinsicht für den Erhalt der Raj unverzichtbaren Punjab. Hindu- und Muslimbevölkerung halten sich hier, wie in Bengalen fast die Waage, daneben besteht hier die kleine, aber einflussstarke Minderheit der Sikhs. Der Punjab ist der Kornspeicher Britisch Indiens und seine Agrarelite, die sich nicht nur aus Großgrundbesitzern und Magnaten, sondern aus der Jat-Kaste entstammten "Kulacken", erfolgreichen Mittel- und Großbauern, zusammensetzt, ist noch nicht religiös gespalten. Dies macht die Bildung einer religiös neutralen regionalen Partei, der Unionist Party, möglich, die fast durchgängig bis kurz vor der Unabhängigkeit an der Macht bleibt und mit der sich der Kongress ebenso wie die Muslim-Liga bis zu der alles entscheidenden Wahl 1946 arrangieren muss. Eher im Schatten der Unionist Party ist zugleich seit den 20er Jahren eine religiöse Protestbewegung und schließlich Partei der Sikhs, die Akhali Dal entstanden. Bedeutung gewinnt diese religiöse Partei aber erst nach der Unabhängigkeit.

In zumindest drei großen Presidencies trifft der Kongress damit auf regionale Abwehrreaktionen oder Parteien, die seinen Einfluß langfristig oder kurzfristig zurückdrängen und seinen nationalen Führungsanspruch bestreiten oder relativieren. In allen drei Presidencies entstehen oder bestehen damit regionale parteipolitische Sonderkulturen, die sich später, nach der Unabhängigkeit, in alten oder neuen Formen entfalten: Im Punjab wird nach der Unabhängigkeit und vor allem nach der Schaffung einer Mehrheitsprovinz für die Sikhs, der Punjabi Subba, die Akhali Dal zur zweitwichtigsten Partei. In Westbengalen steht der Kongress bei der Unabhängigkeit in Konkurrenz mit der CPI, später CPM, an die er seit 1968 bis heute die Macht abgeben muss. Damit entsteht ein weltweites Unikum: Lediglich in Westbengalen schafft es eine kommunistische Partei seit 30 Jahren, aufgrund demokratischer Wahlen fortlaufend wiedergewählt zu werden - allerdings als eine vorrangig regionale, bengali-nationalistische Kaderorganisation. In Tamil Nadu schafft es schließlich eine DMK genannte tamil-nationalistische Partei, deren ideologische Genealogie bis auf die Justice Party zurückgeht, 1967 den Kongress von der Macht zu drängen. Sie und ihre Splitterorganisation, die AIA-DMK, beherrschen Tamil Nadu bis heute. Der durch den Aufstieg des Kongress unausweichlich gewordene Konflikt zwischen nationalem Zentrum und regionaler Peripherie begründet damit bereits zum Beginn des Unabhängigkeitskampfes drei bis heute wirksame regionale Sonderkulturen, Gegenbewegungen oder Regionalparteien.

 

Fortsetzung: Die Entstehung eines Parteiensystems in Britisch Indien (II)

 

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .

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