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22. Januar 2002. Analysen: Politik & Recht - Indien Im Namen Rams

Die Zerstörung der Babri-Moschee von Ayodhya

Am 6. Dezember 1992 zerstörten zehntausende fanatisierter Hindus die Babri-Moschee im nordindischen Ayodhya. Das säkulare Indien erlebte seine dunkelste Stunde und die Stadt ist seitdem ein Synonym für Hass und Gewalt zwischen den Religionsgemeinschaften auf dem Subkontinent.

Ayodhya befindet sich in Uttar Pradesh, dem mit 166 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Staat der indischen Union. Das 80.000 Einwohner zählende Städtchen liegt etwa 130 Kilometer östlich der Landeshauptstadt Lucknow am Fluss Saryu, einem Nebenfluss des Ganges. Ayodhya zählt zu den sieben heiligen Orten des Hinduismus, wobei über Jahrhunderte auch andere Religionen wie Buddhismus, Jainismus und Islam ein integraler Bestandteil des Lebens der Region waren. Hunderte Tempel der verschiedenen Konfessionen prägen noch heute das Bild Ayodhyas und machen die Stadt zu einem spirituellen Zentrum.

Die Bedeutung Ayodhyas für die hinduistische Mythologie lässt sich aus dem Ramayana ableiten. Dieses Epos aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beschreibt die Geschichte um Gottkönig Ram. Der Legende nach wurde Ram, eine Reinkarnation des Gottes Vishnu, als Sohn des Herrschers von Ayodhya geboren. Nachdem Ram den Dämonenkönig Ravana besiegt hatte, wurde er schließlich selbst zum König gekrönt. Trotz dieser frühen Erwähnung begann sich Ayodhya aber erst im 11./12. Jahrhundert zu einem Zentrum des vishnuitischen Glaubens und einem Wallfahrtsort zu entwickeln. Das Ziel der hinduistischen Pilger wurde das Ram Janmabhoomi, die Geburtsstätte Rams. Es gibt allerdings keine gesicherten Hinweise, dass Ram in einem bestimmten Tempel verehrte wurde.

Im Sommer 2001, fast neun Jahre nach der Schleifung der Babri-Moschee, macht die Kleinstadt einen ruhigen, ja fast friedlichen Eindruck und zunächst errinnert wenig an die tragischen Ereignisse von 1992. Selbst die Kontrollpunkte von Armee und Polizei auf den Zufahrtsstraßen nach Ayodhya, an denen gelangweilte Sicherheitkräfte die Fahrzeuge anhalten, wirken deplaziert. Doch nur zehn Minuten von der Hauptstrasse entfernt ändert sich dieses Bild. Stacheldraht und Wachtürme markieren die Ruinen der zerstörten Babri-Moschee und ein vier Meter hoher Zaun umgibt das gesamte Areal. Überall patrouillieren Posten, die im Gegensatz zu ihren Kollegen am Stadtrand, jede Bewegung aufmerksam im Auge behalten. An der Rückseite des hermetisch abgeriegelte Geländes befindet sich eine kleine Anhöhe, auf der einst die Babri-Moschee stand. Heute steht an dieser Stelle ein unscheinbares Zelt, in dem sich das Ram Janmabhoomi befinden soll.

Für ausländische Besucher gestaltet sich der Zugang zum "Geburtsort Rams" schwierig. Zunächst gilt es die Neugier eines freundlichen Herren zu befriedigen, der sich auf Nachfrage als Geheimdienstmitarbeiter ausweist. Warum man denn nach Ayodhya gekommen sei, möchte er wissen. Den Erläuterungen folgend, nimmt er die Personalien auf und erklärt schließlich, dass einer Besichtigung nichts im Wege stünde. Allerdings dürfe aus Sicherheitsgründen nicht fotografiert werden. Darüber hinaus sei es nicht möglich das Gelände allein zu betreten, was aber kein Problem sei, da er Interessierte gerne begleite.

Nachdem eine erste Schleuse passiert ist, erstreckt sich ein 150 Meter langer und auf beiden Seiten eingezäunter Weg bis zu einem zweiten Durchgang. Hier müssen auch Tasche, Sonnenbrille und Kugelschreiber abgeben werden. Die nächste Etappe führt durch eine Art Laufgitter. Der Weg ist nur noch einen Meter breit und auf beiden Seiten durch einen hohen Zaun begrenzt. Am dritten Kontrollpunkt wird der Besucher schließlich aufgefordert, den Reisepass abzugeben. Der Weg zum Schrein führt ebenfalls durch das beschriebene Laufgitter. Etwa auf halber Strecke des U-förmig angelegten Weges, der über die Ruinen der Babri-Moschee führt, befindet sich das fünf mal fünf Meter große Zelt mit dem Schrein für Gott Ram. Die hinduistischen Pilger ziehen ehrfürchtig daran vorbei, doch mehr als schauen, kurz innehalten und beten ist nicht möglich. Die Sicherheitskräfte drängen zur Eile.

"Früher war Ayodhya eine wundervolle und friedliche Stadt", sagt Mahant Bholadas. Der alte Priester sitzt vor einem der unzähligen kleinen Tempel, die den Weg zurück in die Innenstadt säumen. "Es gab keine Ausschreitungen oder Spannungen. Der Ärger begann erst, als der Magistrat 1949 die Moschee schließen ließ." Auf die Frage, wie er die gegenwärtige Situation beurteilt, meint Bholadas nachdenklich: "Wir wissen, das Shri Ram in Ayodhya geboren wurde. Doch wir können nicht sagen, ob es in diesem oder jenem Haus war. Wie kann jemand behaupten, es sei exakt an der Stelle der alten Moschee gewesen?" Ein wenig verärgert bestätigt Bholadas, dass es vor allem radikalen Kräfte die Kampagne vorgetrieben hätten. Darüber hinaus wären 1992 kaum Einheimische an der Zerstörung der Moschee beteiligt gewesen, fast alle hindunationalistischen Freiwilligen seien von außerhalb angereist.

Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Anhänger einer hinduistischen Sekte erstmals behauptet, das Ram Janmabhoomi befände sich genau an jener Stelle, an der bis vor neun Jahren die Babri-Moschee stand. Die aus dem 16. Jahrhundert stammende Moschee soll im Auftrag des Moghul-Herrschers Babur auf den Ruinen eines zuvor zerstörten Ram-Tempels errichtet worden sein, es ist jedoch umstritten, ob diese Sicht den historischen Tatsachen entspricht. Weder das Baujahr noch der Erbauer selbst lassen eindeutig nachweisen. Und die vorangegangene Zerstörung eines Tempels ist ebenso wenig zu belegen wie die genaue Geburtsstelle Rams. Zwischen den Jahren 1853 und 1855 kam es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen in Ayodhya, nachdem radikale Hindus die Moschee besetzt hatten. Ein unter Vermittlung der britischen Kolonialmachthaber ausgehandelter Kompromiss zwischen beiden Religionsgemeinschaften erlaubte den Muslimen, weiter in der Moschee zu beten, und den Hindus, ihre Riten im Hof des Gotteshauses zu vollziehen.

Bis 1949 blieb die Lage aufgrund der gemeinsamen Nutzung der Moschee relativ ruhig. Das änderte sich, als in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember etwa 60 Personen in die Moschee eindrangen und eine Ram-Statue installierten. Glaubten viele Hindus, Ram hätte sich offenbart und sei an seinen Geburtsort zurückgekehrt, sahen Muslime in diesem Vorfall eine Entweihung ihres Gebetshauses. Die Aktion sorgte für erhebliche Unruhe in Ayodhya, woraufhin die übergeordnete Polizeibehörde anordnete, die Statue wieder zu entfernen. Der Magistrat des Distrikts Faizabad, ein Anhänger des hindunationalistischen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) (1), kam dieser Anordnung jedoch nicht nach. Er forderte den Imam hingegen zum Verlassen seiner Moschee auf und ließ ihre Türen verschließen. Hinduistische Priester durften jedoch weiterhin morgens und abends ihre Zeremonien vor der Statue vollziehen und auch Gläubige hatten begrenzt Zugang. Das gesamte Areal der Babri-Moschee wurde nach diesem Vorfall unter staatliche Aufsicht gestellt.

Die Muslime wollten den Verlust ihrer Moschee nicht einfach hinnehmen und versuchten, über eine politische Intervention die Rückgabe ihres Gotteshauses durchzusetzen, allerdings ohne Erfolg. Gleichzeitig wurden von beiden Seiten verschiedene gerichtliche Prozesse in Gang gesetzt, die zwar den Status quo bestätigten, aber kein abschließendes Urteil herbeiführten. So blieb die Situation, wie sie sich Ende 1949 ergeben hatte, bis Mitte der 1980er Jahre erhalten, ohne daß sich nennenswerte Konflikte ergeben hätten.

Im Jahre 1984 begann der hindunationalistische Vishwa Hindu Parishad (Weltrat der Hindu, VHP), eine 1964 auf Betreiben des RSS gegründete und weltweit tätige Organisation, eine Kampagne zur "Befreiung von Rams Geburtsort". Ziel war der Abriss der Babri-Moschee und die Errichtung eines Tempels. In den folgenden Jahren gewann das hindunationalistischen Dreigespann, zum dem neben VHP und RSS auch die Bharatiya Janata Party (BJP) gehört, immer mehr Einfluss auf die nationale Politik und trieb die Ayodhya-Kampagne voran. Nach und nach wurde ein Umfeld geschaffen, in dem es den Hindunationalisten gelang, durch die Konzentration auf Ram, die religiöse Vielfalt des Hinduismus auf ein einziges Sinnbild zu reduzieren und gleichzeitig ein Symbol nationaler Einheit zu schaffen. Eine Einheit, die andere religiöse Gruppen, wie die mehr als 140 Millionen Muslime Indiens, ausschließt.

Zu Beginn der 1990er Jahren setzte sich der damalige Präsident der BJP und heutige indische Innenminister L.K. Advani an die Spitze der Ayodhya-Kampagne. Mit einem zum Götterwagen umgebauten Kleinbus durchquerte Advani auf dem Weg nach Ayodhya Zentral- und Nordindien und propagierte aggressiv die Errichtung eines Ram- Tempels. Advanis Wagenprozession löste in vielen Teilen Indiens zahlreiche gegen Muslime gerichtete Gewaltakte aus, bei denen dutzende Menschen ums Leben kamen. Die Prozession wurde schließlich von der Zentralregierung gestoppt, bevor sie Ayodhya erreichen konnte. Der gnadenlose Populismus, mit dem die BJP religiöse Symbole für ihre politischen Ziele instrumentalisierte, verfehlte seine Wirkung nicht. Die Partei konnte sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene ihre Parlamentsmandate vervielfachen. Im Frühsommer 1991 hatte ihr der Wahlsieg in Uttar Pradesh sogar die alleinige Übernahme der Regierung in diesem Staat ermöglicht. Als sich die Situation 1991 erneut zuspitzte, zögerte die Zentralregierung, Vorkehrungen zur Sicherung der Babri-Moschee zu treffen. Sie überließ die Verantwortung der BJP-geführten Landesregierung, die jedoch keinerlei Interesse an einer Lösung zeigte.

Nach jahrelanger Agitation und mehrfachen Ankündigungen stürmten am 6. Dezember 1992 Tausende Kar Sevaks aus ganz Indien unter Führung des VHP und unter Anwesenheit der Parteispitze der BJP die Babri-Moschee. Videoaufnahmen belegen, dass die Aktion präzise geplant war. Ausgerüstet mit Hämmern, Äxten und langen Seilen rissen die hindunationalistische Freiwillige zuerst die Sicherungsanlagen nieder, um dann binnen weniger Stunden das muslimische Gotteshaus dem Erdboden gleichzumachen. Die drei Kuppeln der Babri-Moschee wurden mit Dynamit gesprengt und am nächsten Morgen war auf den Ruinen der Moschee bereits ein kleiner Schrein für Gott Ram errichtet worden. Die anwesenden Polizeikräfte hatten nicht eingegriffen, ob aus Angst vor den bewaffneten und fanatisierten Kar Sevaks oder aus politischem Kalkül, wird wohl nie zu ermitteln sein.

Indien stand unter Schock. Die Politik hatte versagt und die Hindunationalisten hatten binnen eines Tages Tatsachen geschaffen, die nicht mehr rückgängig zu machen waren. In den folgenden Wochen entluden sich Hass und Frustration in schrecklichen Unruhen in vielen Teilen des Landes, bei denen mehr als 2.000 Menschen, vorwiegend Muslime, ums Leben kamen.

Die vom Congress (I) geführte Zentralregierung reagierte auf die Ereignisse mit einem vorübergehenden Verbot von RSS und VHP und setzte alle BJP-geführten Landesregierungen ab. Zwei Jahre später übernahm die BJP jedoch wieder die Regierungsverantwortung in Uttar Pradesh. 1998 konnte sie auch auf Bundesebene die Macht erringen und stellt seitdem mit Atal Behari Vajpayee den Premierminister. Der Eindruck, die Eskalation der Ereignisse von Ayodhya hätte sich gegen die Hindunationalisten gewendet, war nur von kurzer Dauer. Die BJP tritt insgesamt gemäßigter auf, doch die Diskussionen um den Tempelbau werden von hindunationalistischen Hardliner immer wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt und eine einvernehmliche Lösung ist auch neun Jahre nach der Schleifung der Babri-Moschee nicht in Sicht.

Besonders der VHP tritt nach wie vor aggressiv für den Bau eines Ram-Tempels ein. Ende Januar führte die Organisation einen Marsch mehrerer Tausend radikaler Hindus von Ayodhya in die Hauptstadt New Delhi an, um für die Errichtung des Tempels zu demonstrieren. Der VHP hat der Regierung nun ein Ultimatum gesetzt, dem Tempelbau bis zum 12. März zuzustimmen. Die Regierung befindet sich in einer Zwickmühle, denn im selben Monat finden Parlamentswahlen in Uttar Pradesh statt. Trotz anders lautender Aussagen des gemäßigten BJP-Flügels um Premierminister Vajpayee und der Zusage, die Gerichte in dieser Frage entscheiden zu lassen, wird die Kontroverse um den Ram-Tempel zu einem zentralen Thema im Wahlkampf gemacht. "Der Bau des Ram-Tempels in Ayodhya ist der Wunsch eines jeden BJP-Anhängers", verkündete der Parteivorsitzende Jana Krishnamurthy auf einer Kundgebung im Herbst 2001.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation um den Moscheen- bzw. Tempelkomplex in Ayodhya in den kommenden Monaten entwickeln wird. Leider gibt es kaum Grund zur Hoffnung und eine einmütige Lösung rückt jedes Jahr in immer weitere Ferne. Entgegen den Grundsätzen der indischen Verfassung werden hindunationalistische Eiferer durch die Politik der regierenden BJP unterstützt, denn die Partei fürchtet um ihrer Wählerschaft. Die sommerliche Beschaulichkeit war vielleicht nur die trügerische Ruhe vor einem erneuten Sturm religiösen Fanatismus, der bald das ganze Land erfassen könnte.

Anmerkung

(1) Der nationale Freiwilligenbund Rhastriya Swayamsevak Sangh wurde 1925 im zentralindischen Nagpur gegründet. Der RSS stellt den institutionellen Hauptträger der hindunationalistischen Ideologie dar und hat das Ziel, die Hindus nach nationalistischen Gesichtspunkten zu organisieren und die verloren geglaubte Einheit der Hindu-Nation wiederherzustellen. In den Jahren 1927 bis 1947 entwickelte sich der RSS in Nordindien schnell zu einer bedeutenden Organisation der hinduistischen städtischen Mittel- und Oberschicht. Sein Beitrag zum indischen Freiheitskampf war allerdings sehr gering. Von Anfang an richteten sich die Aktivitäten der Organisation mehr gegen die Muslime als gegen die Briten. Nathuram Godse, der Mörder Mahatma Gandhis, war ein Mitglied des RSS. 

Quellen

  • Horstmann, Monika: Entfremdung und fundamentalistische Identitätskonstruktion im zeitgenössischen Indien, in: Internationales Asienforum, Vol.25 (1994), No.3-4, S.315-333.
  • Jürgenmeyer, Clemens: Ayodhya. Chronologie der Ereignisse, in: Internationales Asienforum, Vol.25 (1994), No.3-4, S.375-381.
  • Jürgenmeyer, Clemens: Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften. Das Beispiel Ayodhya, in: Kerber, Walter (Hg.), Religion: Grundlage oder Hindernis des Friedens. Kindt Verlag, München 1995, S.79-164.
  • Rösel, Jacob: Ideologie, Organisation und politische Praxis des Hindunationalismus: Lehre, Rituale und Wirkung des RSS und der BJP, in: Internationales Asienforum, Vol.25 (1994), No.3-4, S.285-313.
  • Schied, Michael: Fundamentalismus ohne Fundamente? Zur Entwicklung des Hindu-Fundamentalismus: Der Fall der Babri-Moschee von Ayodhya, in: asien afrika lateinamerika, Vol.21 (1994), S.603-614.
  • Wagner, Christian: Politische Stabilität und religiöser Konflikt. Der Hindu-Muslim-Konflikt in Indien, in: asien afrika lateinamerika, Vol.21 (1994), S.437-451.

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