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10. Juni 2002. Analysen: Politik & Recht - Südasien Hindustan, Zindabad! Pakistan, Zindabad!

Eine Reportage von der indisch-pakistanischen Grenze

Zwischen dem indischen Amritsar und dem pakistanischen Lahore liegt der einzige Übergang entlang der gemeinsamen Grenze. Und täglich vollzieht sich hier ein bizarres Schauspiel.

Endstation. Die Frühlingssonne steht im Zenit, als der Shatabdi-Express aus Delhi im Bahnhof von Amritsar einläuft. Keine sechs Stunden hat der Zug für die 450 Kilometer durch Haryana und den indischen Punjab benötigt. Die wenigen Reisenden werden auf dem Bahnsteig von Kofferträgern in Empfang genommen, die sich eifrig um die Kundschaft bemühen. Auch die Rikshafahrer auf dem Vorplatz freuen sich auf ein kleines Geschäft, doch nur eine Handvoll von ihnen hat Glück. Ende März wirkt die Millionenstadt verschlafen. "Wissen Sie", sagt wenig später der freundliche Mann an der Hotelrezeption, "seit die Spannungen mit Pakistan wieder zugenommen haben, ist hier nicht mehr viel los."

Der Überfall auf das Parlament in Neu Delhi am 13. Dezember letzten Jahres hatte die neuerliche indisch pakistanische Krise ausgelöst. Seither stehen sich eine Million Soldaten an der Grenze gegenüber. Und folgt man der Rhetorik der jeweiligen Führung, sind sie bereit, jederzeit loszuschlagen.

Das alles ist nicht spurlos an Amritsar vorüber gegangken, liegt es doch in unmittelbarer Grenznähe. Ausländische Touristen kommen angesichts des Konflikts schon lange nicht mehr in die Region, und seit auch die wenigen Bus- und Bahnverbindungen in das nur 60 Kilometer entfernte pakistanische Lahore unterbrochen sind, sieht Amritsar kaum noch Fremde.

Vor der Teilung Britisch-Indiens waren beide Städte geistige und politische Zentren im Punjab. Und es war Amritsar, das zu einem Symbol im Befreiungskampf gegen die Briten wurde. Am 13. April 1919 hatten sich auf dem Jallianwalla Bagh, einem von Mauern umschlossenen Platz, 20.000 unbewaffnete Muslime, Hindus und Sikhs versammelt. Friedlich demonstrierten sie gegen die Kolonialherren, dennoch ließ der Gouverneur der Provinz auf die Menschen schießen. In wenigen Minuten starben 400 Männer und Jungen, 1500 wurden verletzt. Das Massaker stärkte den gewaltlosen Widerstand Mahatma Gandhis und läutete das Ende der Kolonialherrschaft ein.

Als am 14. August 1947 der Union Jack auf dem Subkontinent eingeholt wurde, war aber nicht nur die Unabhängigkeit, sondern auch die Spaltung besiegelt. Die Teilung in zwei Staaten - Indien und Pakistan - löste beispiellose Flüchtlingsströme und eine Welle religiös motivierter Gewalt aus. In beide Richtungen verließen mehr als 10 Millionen Menschen ihre Heimat, bis zu eine Million kamen ums Leben.

Die Erinnerung ist weiterhin lebendig und bestimmt die Beziehungen zwischen beiden Ländern. Nach mittlerweile drei Kriegen ist die scharf bewachte 3000-Kilometer-Grenze zwischen Himalaya und Arabischer See nur an einem einzigen Übergang - Wagah, auf halbem Weg von Amritsar nach Lahore - legal zu passieren.

Im Februar 1999 wurde hier der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee von seinem damaligen pakistanischen Amtskollegen Nawaz Sharif willkommen geheißen. Gemeinsam ging es anschließend im Bus nach Lahore, wo Gespräche ein neues Fundament für die bilateralen Beziehungen legen sollten. Die als Busdiplomatie in die Geschichte eingegangene Initiative verhallte im folgenden Sommer im Donner des Kargil-Konflikts.

Heute erreicht man Wagah am schnellsten mit dem Taxi. Von Amritsar geht die Fahrt über eine gut ausgebaute Straße, vorbei an blühenden Feldern. Der Punjab ist die Kornkammer Indiens. Auf einer mit den Niederlanden vergleichbaren Fläche werden hier über 60 Prozent der Weizen- und mehr als 40 Prozent der Reiserträge des ganzen Landes erwirtschaftet.

Doch die Dörfer wirken verlassen. "Die meisten Leute sind schon vor ein paar Monaten weggegangen", sagt Joginder Singh, ein Sikh, der mit seiner kräftigen Statur und seinem Turban das kleine Taxi fast auszufüllen scheint. Und nachdenklich ergänzt er: "Keiner will bei einem Kriegsausbruch das erste Opfer sein." Seit Dezember sind Zehntausende aus den Gebieten beiderseits der Grenze geflüchtet.

Nach etwa 40 Minuten sind wir am Ziel. Joginder Singh steuert auf einen Parkplatz, der entgegen allen Erwartungen schon gut gefüllt ist. Und immer mehr Menschen treffen ein. Ungezählte Souvenir- und Imbissstände lassen darauf schließen, dass hier ein gutes Geschäft zu erwarten ist. Anders als in Amritsar beklagt sich niemand über einen Besucherrückgang. Das hat seinen Grund, denn täglich findet hier kurz vor Sonnenuntergang ein Spektakel statt. "Die Fahnen beider Länder werden eingeholt", erklärt uns ein Teeverkäufer. "Beating the Retreat" nennen es die Briten, der Junge bezeichnet es einfach als "Flaggenzeremonie".

Die letzten 500 Meter zum Grenzzaun müssen zu Fuß zurückgelegt werden. Der Übergang ist täglich von 9 bis 16 Uhr geöffnet, doch in den letzten Monaten hat sich der Grenzverkehr auf ein Minimum beschränkt. Kontinuität hat nur die "Flaggenzeremonie". Schon sind einige Hundert Menschen aller Altersgruppen am Ort des Geschehens eingetroffen. Das ganze Spektrum der indischen Gesellschaft scheint sich zu versammeln. Aus der Masse heraus ragen die Sikhs mit ihren langen Bärten, den farbenfrohen Turbanen und dem Kirpan, einem traditionellen Dolch. Vorbei an den Gebäuden der indischen Grenztruppen und des Zolls schiebt sich der Menschenstrom in Richtung der Teilungslinie, die mit weißer Farbe markiert ist. Auf der indischen Seite steht in Gardeuniform ein Posten der Grenztruppen. "Fotografieren? Kein Problem", sagt er und lächelt. Sein nicht weniger schneidig wirkender pakistanischer Kollege schaut kurz herüber und wirkt ebenfalls nicht unfreundlich.

Am Grenzübergang wurden in den letzten beiden Jahren Tribünen errichtet. Auf der pakistanischen Seite sind die Traversen schon fast voll. Nach Geschlechtern getrennt, warten die traditionell gekleideten Pakistani auf den Beginn der Vorstellung. Die Tribünen auf der indischen Seite, die 5000 Menschen fassen sollen, füllen sich auch langsam. Die Stimmung ist ausgelassen. Alles erinnert mehr an die Atmosphäre vor dem Anpfiff eines Fußball-Freundschaftsspiels als an ein politisch hochbrisantes Ritual. In den Fankurven werden auf der einen Seite die grün-weißen Fahnen mit dem Halbmond, auf der anderen die safran-weiß-grünen Trikoloren geschwenkt, die zuvor von Grenzsoldaten an ausgewählte Zuschauer verteilt wurden. Wenig später kommen rhythmisches Klatschen und Sprechchöre hinzu.

"Hindustan Murdabad! Pakistan Zindabad!" - "Tod für Indien! Es lebe Pakistan!" Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. "Pakistan Murdabad! Hindustan Zindabad!" Die Elitesoldaten der indischen Grenztruppen haben bereits eine Stunde vor Beginn der Zeremonie alle Mühe, die Massen auf den mittlerweile voll besetzten Tribünen unter Kontrolle zu bringen. Zwischenzeitlich geben sie Ratschläge, was man denn rufen könne. Man solle doch weniger Pakistan beschimpfen, als vielmehr das eigene Land hoch leben lassen. Das sei eine Frage das guten Stils.

Die Stimmung schaukelt sich immer weiter hoch. Während die Pakistani ihr Land relativ geordnet bejubeln, geht es auf der indischen Seite drunter und drüber. Als schließlich die Zeremonie beginnt, sind die Inder nicht mehr zu halten. Jeder Exerzierschritt der eigenen Soldaten in Richtung Grenzzaun wird stürmisch gefeiert und niemanden hält es mehr auf den Plätzen. Die Sprechchöre werden lauter und in den Gesichtern glaubt man Fanatismus zu erkennen. Jetzt ist es kein Freundschaftsspiel mehr, sondern der Kampf zwischen Gladiatoren. Die Massen toben, als sich indische und pakistanischen Posten Auge in Auge gegenüber stehen.

Wenige Minuten später werden die Fahnen eingeholt und die Tore auf beiden Seiten mit lautem Krachen zugeschlagen. Das Spektakel ist vorüber. Ein paar verwegene junge Männer laufen in Richtung Grenzzaun und drohen wütend mit ihren Fäusten in Richtung Pakistan. Die indischen Posten halten sie nicht zurück. Doch auf der anderen Seite interessiert sich niemand für die Inder. Die Vorbereitungen für ein Gruppenfoto sind wichtiger, denn für ein ausländisches Fernsehteam gilt es, sich ins rechte Licht zu rücken.

Joginder Singh wartet neben seinem Taxi. "Hat es Ihnen gefallen?", möchte er wissen. Auf dem Rückweg macht uns Singh noch auf die ausgebauten Stellungen der Armee aufmerksam, dann fährt er uns zurück ins Hotel. "Kommen Sie bald wieder", sagt er zum Abschied. Und lächelnd fügt er hinzu: "Eigentlich sind wir Brüder, auch wenn es für sie gerade anders ausgesehen haben muss."

Am nächsten Tag fahren wir zurück nach Delhi. Hier wurde 1943 der pakistanische Präsident Pervez Musharraf geboren. Eine Ironie der Geschichte?

Quelle: Dieser Artikel erschien am 1. Juni 2002 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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