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13. Juni 2001. Analysen: Politik & Recht - Südasien Maulana Maududi

und die Ideologie der Jamaat-i-Islami

Sayyid Abul A'la Maududi, genannt Maulana Maududi, war der Gründer und langjährige Vorsitzende der Jamaat-i-Islami, einer besonders in Pakistan einflussreichen islamistischen Partei. Als einer der meistgelesensten muslimischen Autoren seiner Zeit trug er maßgeblich zur Verbreitung des Bildes eines autoritären, normfixierten und statischen Islam bei. Der folgende Artikel skizziert Maududis Werdegang und beschreibt seine politischen Ziele vor dem Hintergrund einer Politisierung des Islams in Südasien seit dem 19. Jahrhundert.

Ein muslimischer Intellektueller im kolonisierten Indien

Abul A'la Maududi wurde am 25. September 1903 in Aurangabad im muslimisch regierten Fürstentum Hyderabad im Süden Indiens geboren. Er entstammte einer Sayyid-Familie, der traditionellen muslimischen Oberschicht Indiens, die sich auf eine Abstammung direkt von der Familie des Propheten beruft. Die Familie war ursprünglich den Chishtiyya verbunden, einem gemäßigt orthodoxen, auch in der Volksmystik verwurzelten Sufi-Orden. Dagegen war Maududis Vater, ein Anwalt, tief beeinflusst von der in Auseinandersetzung mit der kolonialen Vermittlung europäischer Werte entstandenen Bewegung zur Purifizierung des Islams, die eine Reinigung von synkretistischen Praktiken und ein Wiedererstarken der muslimischen Welt nach dem Vorbild der islamischen Frühzeit anstrebte. Er lehnte sowohl die traditionelle, die modernen Wissenschaften meist völlig ignorierende Ausbildung der madrasas als auch die säkulare Ausbildung an den Kolonialschulen ab und unterrichtete seinen jüngsten Sohn Abul A'la zu Hause neben seiner Muttersprache Urdu u.a. im Studium der Naturwissenschaften, der kanonischen islamischen Schriften und der Sprachen Arabisch, Persisch und Englisch. Später besuchte Maududi für kurze Zeit eine neugegründete madrasa in Hyderabad. Diese Verwurzelung in einem purifizierten, schriftfixierten "Hoch-Islam" prägte Maududis Anschauungen bis ans Ende seines Lebens.

Nach dem Tod seines Vaters arbeitete Maududi schon mit 17 Jahren für ein Urdu-sprachiges Wochenmagazins in Jabalpur, wenig später wechselte er nach Delhi zur Al-Jamiat, der Zeitschrift der Jamiat Ulama-i-Hind, der wichtigsten Vereinigung traditioneller Geistlicher Indiens. Unter seiner Herausgeberschaft von 1925 bis 1928 entwickelte sich das Blatt zur führenden muslimischen Zeitung des Landes. Daneben beteiligte er sich auch an der ersten indischen Massenbewegung, dem Khilafat-Movement gegen die Zerschlagung des osmanischen Kalifats nach dem Ende des Ersten Weltkrieg.

In der Al-Jamiat veröffentlichte Maududi 1927 Al-Jihad Fi-al Islam, eine Untersuchung zum islamischen Kriegsrecht anhand der kanonischen Schriften, die 1930 auch in Buchform erschien. Durch diese Schrift, in der Maududi die Koranischen Konzepte zu Krieg und Frieden anhand moderner Begriffe interpretierte, wurde der große Dichter und Philosoph Muhammad Iqbal auf ihn aufmerksam. Zur geplanten Zusammenarbeit bei der Übersetzung und Neuinterpretation der frühen religiösen Kommentare zu Recht und Politik kam es wegen Iqbals Tod 1938 aber nicht mehr.

Die zunehmende Polarisierung zwischen Muslimen und Hindus im Vorfeld der 1934 und 1936 anstehenden Wahlen zum Zentralparlament und den Provinzlandtagen zog Maududi stattdessen endgültig in die politischen Auseinandersetzungen hinein. Dabei wandte er sich gegen beide großen muslimischen Organisationen Indiens: Die Pakistan-Bewegung bzw. die Muslim-League lehnte Maududi ab, weil der Islam als universales Weltbild nicht als ideologisches Fundament eines Nationalstaates missbraucht werden dürfe (Ahmad, 467). Die ulama, die traditionelle Geistlichkeit, bei der seine radikalen Neuinterpretationen kanonischer Schriften kaum Zustimmung fanden, griff er wegen ihrer Monopolisierung religiöser Auslegung mittels des ijma, des "Konsenses der Gelehrten" an. (Bahadur, 37f) Außerdem kritisierte er ihre unentschiedene oder teilweise gar zustimmende Haltung zur Zwei-Nationen-Theorie.

Die frühislamische Blütezeit als Rettungsanker

In der von 1933 bis zu seinem Lebensende herausgegebenen Monatsschrift Tarjuman-al-Quran (etwa: Die Deutung des Korans) und in unzähligen Aufsätzen und Vorträgen arbeitete Maududi seine politischen Ziele heraus, die bis heute ideologische Grundlage der von ihm gegründeten Jamaat-i-Islami sind. Dabei interpretierte er den Koran einerseits eng, fast wortklauberisch, andererseits benutzte er explizit das politische Vokabular der Moderne und arbeitete vielfach mit Analogien, um zeitgenössische politische Institutionen und Ideen mit dem Nachweis ihrer Existenz in der islamischen Frühzeit zu legitimieren.

Fundament seines politischen Kampfes war die Überzeugung, dass der Islam eine umfassende Weltanschauung sei, die nicht nur die Beziehungen der Gläubigen zu Gott auf der Basis der fünf offiziellen Säulen des Islam (Glaubensbekenntnis, Gebet, Einhaltung der Fasten- und Reinheitsvorschriften, Unterstützung der Armen, Pilgerfahrt) umfasse, sondern alle Lebensbereiche, besonders auch das gesellschaftliche Zusammenleben, umfassend, abschließend und eindeutig regele (Maududi, 149, 197). Er war davon überzeugt, dass sie in idealer Weise während der Herrschaft des Propheten und der vier rechtgeleiteten Kalifen verwirklicht gewesen sei. Sein Ziel war die Wiederherstellung der frühen Ordnung, spätere Entwicklungen im Islam ignorierte oder lehnte er als Entstellungen des "reinen" Islam ab. Als Quellen der Erkenntnis dieser idealisierten islamischen Gesellschaft akzeptierte er lediglich Koran, sunna (Praxis des Propheten und seiner Gefährten), hadith (glaubhafte Überlieferung) und die frühe Jurisprudenz (Maududi, 196f).

Verordnete Frömmigkeit: Der allmächtige Staat

Nach Maududis Vorstellungen sollte die neue Gesellschaft zuerst auf staatlicher Ebene errichtet werden: "These [principles of morality and ethics] cannot be translated into practice unless there is a State to enforce them. And herein lies the necessity of an Islamic State." (Maududi, 158) Als oberstes Prinzip dieses Staates und der Gesellschaft beschrieb er die Souveränität Gottes. Sie verbinde Religion und staatliche Ordnung zu einer untrennbaren Einheit, denn Gottes Souveränität erstrecke sich auf alle Bereiche menschlichen Lebens. Dabei bezog er sich auf Koranstellen, in denen die Allmacht Gottes bei der Schaffung des Universums und der Menschen, bei dessen Erhaltung und bei der Beurteilung der Menschen nach ihrem Tod beschrieben wird. Diese Allmacht erstrecke sich direkt auf alle menschlichen Lebensbereiche und werde durch den Staat in konkrete Normen übersetzt. Die Konzipierung staatlicher Herrschaft als Stellvertretung göttlicher Allmacht unterwerfe die Gesamtheit menschlicher Handlungen staatlicher Herrschaft: "The Islamic state is an all-embracing state and comprises within its sphere all departments of life." (Maududi, 145) In seiner politischen Lesart des Koran übersetzte er z.B. ibadah (Anbetung, Verehrung) mit obedience (Gehorsam), damit transformierte er Frömmigkeit in ein Autoritätsverhältnis zwischen Staat und Einzelnem.

Trotz des offensichtlichen Verzichts auf eine Begrenzung staatlicher Macht beteuerte Maududi, in seinem islamischen Staat seien die Rechte des Einzelnen gewahrt. Machtmissbrauch könne nie von Dauer sein, weil der Herrscher wie jeder Muslim Gott verantwortlich sei, und weil er von der umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, in der Klassen und Rassen keine Rolle mehr spielen werden, gewählt werde (Maududi, 142-144, 167-169). Dem Staatsoberhaupt zur Seite stehen soll eine periodisch, in freien und gleichen Wahlen der Muslime bestimmte beratende Versammlung, die majlis-i-shura. Sie werde, ähnlich wie die Runde der engsten Gefährten des Propheten, den weisen Herrscher unterstützen, und entscheide durch Konsens.

Für die Nicht-Muslime bzw. die von der offiziellen Ideologie abweichenden Menschen sollen ähnliche Verhältnisse wie für Minderheiten in einem Nationalstaat gelten, sofern sie die Vorherrschaft von Maududis Islam akzeptieren. Ihre Rechte würden sich nach den Vorgaben der shar'ia über den Umgang mit Ungläubigen bemessen. (Maududi, 272-281)

Ökonomische Ziele spielen weder in Maududis Schriften noch in der Programmatik der Jamaat-i-Islami eine prominente Rolle. Kern der wirtschaftlichen Vorstellungen ist die Einziehung der Wohlfahrtsabgabe (zakat) durch den Staat und die staatliche Durchsetzung des Zinsverbots. (Ahmad, 489) Privateigentum und Privatwirtschaft würden erhalten bleiben, mit Zerschlagung von Monopolen und Vetternwirtschaft sei Chancengleichheit garantiert.

Wie diese "Theodemokratie" (wie er es selbst nannte) konkret funktionieren könnte, hat Maududi kaum ausgeführt, er sprach sich lediglich für gemeinsame Entscheidungen von Staatsoberhaupt und shura aus. Auch Maududi erkannte an, dass das islamische Recht nicht vollständig spezifiziert und eindeutig ist. Deshalb (und natürlich auch zur Begründung seiner eigenen Auslegung) verteidigt er ijtihad, die freie Interpretation von Kennern der Materie. Traditionell waren das die ulama, denen Maududi aber sicher nicht die Entscheidungskompetenz in seinem neuen Staat zukommen lassen wollte. So wie er die Anforderungen für die Mitgliedschaft in der Volksversammlung majlis-i-shura beschreibt, lässt sich vermuten, dass die Gesetzgebung vorwiegend in der Hand von Laien - wozu auch die allermeisten von Maududis Anhängern zählen - liegen soll.

Der "Islamische Staat" muss erkämpft werden

Generell galt Maududis Aufmerksamkeit aber weniger dem Gesetzgebungsprozess im "Islamischen Staat" als praktischen Schritten zur Umsetzung dieses revolutionären Wandels. Sein Szenario zur vollständigen Etablierung des Islam in Pakistan sieht zunächst die Kodifizierung der alleinigen Souveränität Gottes und der shari'a in der Verfassung vor. Alle bestehenden Gesetze müssten mit ihr in Einklang gebracht oder abgeschafft werden. Die Implementierung dieser Normen werde die Muslime davon überzeugen, Männer zu wählen, die sich für die vollständige Errichtung des islamischen Systems einsetzen. Nachdem die "islamische" Bewegung auf diese Weise demokratisch die Macht übernommen habe, könne der Staat die tiefgreifende Reform aller Lebensbereiche nach dem frühislamischen Vorbild in Angriff nehmen, insbesondere mithilfe des Erziehungswesens und der Medien. Mit den richtigen Leuten könne diese Reform innerhalb von 10 Jahren bewerkstelligt werden. (Maududi, 92-99)

Für Maududi kommt also der Auswahl der intellektuellen Führer dieser Bewegung bei der Umgestaltung des Staates und der Gesellschaft eine entscheidende Rolle zu. Die 1941 von ihm gegründete Jamaat-i-Islami ("Islamische Vereinigung") wollte er deshalb nicht als herkömmliche Partei verstanden wissen, sondern als Zentrum einer Bewegung. Obwohl er die Teilung Indiens ablehnte, ließ sich Maududi 1947 im pakistanischen Lahore nieder, da er sah, dass sein Projekt eines wahrhaft islamischen Staates nur in einem Land mit muslimischer Mehrheit umzusetzen sei. Hier begann er mit dem Aufbau fester Strukturen der Jama'at, die vor der Unabhängigkeit kaum öffentlich tätig war. Parlamentarischer Einfluss war von Anfang an nur ein (bis heute recht schwaches) Standbein der als geschlossener Kaderverband mit gestaffelter Mitgliedschaft aufgebauten Jamaat-i-Islami Pakistan. Entscheidend für den Erfolg betrachtet die Partei auch den Aufbau eines islamistischen Netzwerks unter ihrer Führung. Bis heute entstanden Frontorganisationen in den verschiedensten Berufsgruppen und sozialen Bereichen. Hilfe für die Armen und umfangreiche publizistische Tätigkeiten verschaffen der Jama'at ebenfalls Einfluss in der Gesellschaft.

Die Jamaat-i-Islami zwischen Reform und Revolution

Anfang der 1950er Jahre erreichten die Auseinandersetzungen zwischen der Jamaat und dem säkularen Staat einen ersten Höhepunkt. Während der Demonstrationen und Kampagnen zur Einführung einer "Islamischen Verfassung" kam es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei, Maududi wurde verhaftet und 1953 zum Tode verurteilt. Auf öffentlichen Druck hin wurde das Todesurteil erst in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt, wenig später wurde er freigelassen.

Die ursprüngliche Idee, sich nur begrenzt und als Fundamentalopposition parlamentarisch zu betätigen, trat in den folgenden Jahren in den Hintergrund. Um General Ayub Khan von der Macht zu verdrängen, stimmte Maududi 1965 sogar der Unterstützung der Kandidatin der säkularen Opposition, Fatimah Jinnah zu. Nach der schmerzlichen Wahlniederlage 1970, als Maududi und seine Mitstreiter eigentlich auf den Durchbruch gehofft hatten, gewann bei ihm allerdings wieder die puristische Sicht einer fundamentaloppositionellen, revolutionären Bewegung die Oberhand. Von seinen Anhänger zum Teil für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht, begann er sich enttäuscht aus der Tagespolitik zurückzuziehen. Zwei Jahre später legte er den Parteivorsitz nieder. Bis zu seinem Tod widmete er sich nur noch seinen theologischen Publikationen. Am 22. September 1979 starb er in der Nähe New Yorks, wo sein Sohn als Arzt lebte, an einem Herzleiden.

Nach dem Tod ihres Gründers hielt die Partei an ihrer doppelten Strategie fest: Neben der Erweiterung des parlamentarischen Einflusses strebt sie mittels außerparlamentarischer Kampagnen eine weitere Verankerung in der Gesellschaft an. Unter Qazi Husain, Parteivorsitzender seit 1987, stehen dabei nicht mehr nur das zentrale Thema Islamisierung der Verfassung und Unterstützung des "Jehads" in Kashmir, sondern immer öfter aktuelle Themen wie z.B. die Verschuldungskrise im Mittelpunkt.

Maulana Maududi hatte seine intellektuelle Karriere im Rahmen der im 19. Jahrhundert entstandenen islamischen Reformbewegung begonnen. Wie viele andere muslimische Denker in Indien reagierte er auf den Angriff des europäischen Wertesystems und seiner spezifischen Rationalitätsvorstellungen, die den öffentlichen Raum des kolonisierten Südasiens beherrschten, und auf die zunehmend religiöse Symbolik des antikolonialen Kampfes, mit der Propagierung eines "gereinigten" Islam und einer Glorifizierung der frühislamischen Gesellschaft. Anders als die konservativen Geistlichen und die meisten Vertreter eines politischen Islams benutzte er dabei aber schon früh explizit das politische Vokabular der Moderne und verstand seine theologischen Interpretationen als Teil eines umfassenden, nicht nur den persönlichen Glauben betreffenden, Reformprogramms. Obwohl Maududi zeitlebens vom Mainstream der pakistanischen Politik ausgeschlossen blieb, beeinflusste sein normenfixiertes und statisches Bild einer idealen islamischen Gesellschaft die pakistanische Gesellschaft weit über seine eigentliche Anhängerschaft -vorwiegend städtische, von staatlichen Verteilungsleistungen vernachlässigte untere Mittelschichten- hinaus, wie die Einführung von Verfassungszusätzen zur Souveränität Gottes, der Bedeutung der shari'a und zur Verankerung von zakat, der Wohlfahrtsabgabe, zeigen.

Quellen

  • Mumtaz Ahmad (1991): Islamic Fundamentalism in South Asia. The Jamaat-i-Islami and the Tablighi Jamaat, in: Fundamentalisms observed, hg. von Martin E. Marty und R. Scott Appleby, Chicago, S.457-530
  • Kalim Bahadur (1977): The Jama'at-i-Islami of Pakistan. Political Thought and Political Action, New Delhi
  • Sayyid Abul A'la Maududi (1969): The Islamic Law and Constitution, Lahore, 4. Auflage (Sammlung von Aufsätzen und Reden Maududis, hg. und eingeleitet von Kurshid Ahmad, seinem Nachfolger im Parteivorsitz)
  • Seyyed Vali Reza Nasr (1994): The Vanguard of the Islamic Revolution. The Jama'at-i-Islami of Pakistan, Berkeley/Los Angeles

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