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01. Mai 2004. Interviews: Politik & Recht - Indien "Ich versuche, optimistisch zu bleiben"

Interview mit Dr. Bernard Shaw

Dr. Bernard Shaw arbeitet als Lektor für Geschichte am Arul Anandar College in Madurai. Neben seit Lehrtätigkeit engagiert er sich in den Bereichen Jugendhilfe, Aidsberatung, Alphabetisierungsförderung und Umweltschutz. Er wurde für seine Aktivitäten mit dem "Tamil Nadu State Award" ausgezeichnet. Claudio Altenhain sprach mit ihm im Vorfeld der indischen Parlamentswahlen.

Herr Shaw, dieser Tage sind 670 Millionen Inder aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Wie schätzen Sie den Zustand der "Größten Demokratie der Welt" ein?
Abraham Lincoln hat Demokratie einmal so definiert: Eine Regierung vom Volk, durch das Volk und für das Volk. Der Verfassung zufolge ist Indien sicherlich eine Demokratie in diesem Sinne. Dennoch leidet die indische Demokratie unter mehreren Problemen. Vor allem soziale Ungleichheit und die politische Unwissenheit der Menschen spielen hierbei eine zentrale Rolle. Selbstsüchtige Politiker, Diskriminierung von Minderheiten, die Zentralisierung der Macht und die Kastentrennung sind auch weiterhin hochaktuelle Angelegenheiten.
Die in der Lok Sabha regierende National Democratic Alliance unter Premierminister Atal Behari Vajpayee behauptet, die wirtschaftliche Entwicklung habe in den letzten fünf Jahren große Fortschritte gemacht. Stimmen sie zu?
Diese Aussage bezweifle ich stark. Der behauptete Anstieg der Devisenreserven basiert im Wesentlichen auf dem Verkauf von öffentlichen Unternehmen. Des Weiteren kann der Wohlstand einer Nation niemals nur am Wirtschaftswachstum festgemacht werden. Im UN-Entwicklungsindex steht Indien auf dem Platz 127, noch hinter Nationen wie Guatemala, El Salvador und Botswana. Der Reichtum wird nicht gleichmäßig verteilt, die von der nationalen Kommission der Landarbeiter ermittelte hohe nationale Migrationsrate unterstreicht diesen Fakt.
Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren frustriert von der weitverbreiteten Korruption in Politik und Verwaltung. Wie kann diese Situation verändert werden?
Die gebildeten und kritischen Menschen müssen dafür Sorge tragen, ein breites Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen. Gegenwärtig besteht eine Trennung zwischen gebildeten und ungebildeten Indern, dieser Zustand darf nicht andauern. Das Bildungssystem muss verändert werden, die Kinder sollten zu kritischen und verantwortungsbewussten Bürgern erzogen werden.
In den letzten Jahren haben in Indien religiöse Auseinandersetzungen zugenommen, gipfelnd in den Ereignissen von Ayodhya 1992 und den anti-muslimischen Pogromen in Gujarat vor zwei Jahren. Verliert Indien seine säkulare Integrität?
In diesem Punkt bin ich nicht so pessimistisch. Sicherlich versuchen einige Parteien, religiöse Konflikte zu schüren, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Ich glaube allerdings nicht, dass die säkularen Kräfte in Indien hier nachgeben werden. Gleichwohl ist es höchste Zeit zu handeln.
Seit der Außenhandelskrise von 1991 gab es in Indien gravierende Wirtschaftsreformen. Ist Indien ein Gewinner oder ein Opfer der Globalisierung?
Indien ist ein Opfer. Abgesehen von einigen Branchen im Dienstleistungssektor wurden im Zuge der Globalisierung viele Beriche der Indischen Wirtschaft zerstört. Indien befindet sich unter Neokolonisation. Wir verkaufen Reis ins Ausland für 5,45 Rupien pro Kilo, während die selbe Menge auf dem Binnenmarkt 6,45 Rupien kostet. Diese Entwicklung führt zu der paradoxen Tatsache, dass unser Reisvorrat bei 60 Millionen Tonnen liegt und viele Menschen dennoch hungern, weil sie für die hohen Binnenpreise zu arm sind.
Indien bezeichnete sich im Kalten Krieg als eine "blockfreie" Nation. Wie definieren Sie Indiens Rolle und seine Verantwortlichkeit für internationalen Frieden heute?
Seit dem Ende des Kalten Krieges, haben sich die USA zum Weltpolizisten aufgeschwungen und die indische Regierung als einen neuen Protagonisten ihrer Politik gewonnen. Indien hat seine Neutralität durch die Unterstützung des zweiten Golfkrieges 1991 verletzt und weigert sich beständig, den Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen zu unterschreiben, in der Hoffnung, ein offizielles Mitglied im "Atomclub" zu werden. Als Indien das erste Mal Atomwaffen getestet hat, hat es seine moralische Glaubwürdigkeit verloren, um über Gewaltlosigkeit zu sprechen. Als ein Bürger dieser Nation will ich ein Indien frei von Armut und Unwissen. Ich werde niemals stolz auf Atomwaffen sein.
Viele indische Politiker und Wissenschaftler sehen Indien mittelfristig als eine entwickelte Nation. Was halten Sie von diesen Vorhersagen?
Ich kenne diese Theorien und finde sie recht hypothetisch. Es stellt sich die Frage, inwiefern die großen Zukunftspläne verwirklicht werden können. Es gibt genug Gründe, über Indiens Zukunft besorgt zu sein, so zum Beispiel aufgrund des erwarteten Bevölkerungswachstums und vermehrter HIV-Fälle. Ich versuche dennoch, optimistisch zu bleiben.
Was sollten die wesentlichen Anliegen der nächsten indischen Regierung sein?
Die Idee des Säkularismus muss bewahrt werden. Das ist sicherlich die wichtigste Aufgabe. Auch eine gerechte Verteilung des Reichtums, die Bekämpfung von Analphabetismus und die flächendeckende Versorgung mit Strom und Wasser sind zentrale Aspekte. Jeder einzelne Bürger sollte die Chance bekommen, sich aus dem Kreislauf der Armut zu befreien.

Quelle: Das Interview erschien in der Mai-Ausgabe der Sivakasi Times

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