Inhalt

13. Juli 2012. Interviews: Politik & Recht - Afghanistan Strategischer Rückzug

Interview mit dem Gesandten Botschaftsrat der Islamischen Republik Afghanistan, Abed Nadjib, zur Bildung der Nordallianz und der Bedeutung ihres militärischen Führers Ahmad Shah Massoud

Im September des Jahres 1996 wurde die Regierung Rabbani von den Taliban aus der afghanischen Hauptstadt Kabul vertrieben. Präsident Rabbani und seine Gefolgsleute sowie andere Gegner jener neuen Bewegung zogen sich in den Norden des Landes zurück. Dort wurde die Nationale Islamische Vereinigte Front zur Rettung Afghanistans – die sogenannte Nordallianz – gebildet. Das folgende Interview analysiert die Bildung des breiten Oppositionsbündnisses, deren Vertreter nach dem Sturz der Taliban die Macht übernahmen, und beleuchtet insbesondere den militärischen Anführer des Bündnisses Ahmed Shah Massoud. Der "Löwe aus Panjshir" wurde im September 2001 von den Taliban ermordet und wird heute als Nationalheld geehrt.

Ein Besuch in der afghanischen Botschaft – ein hübsches rosafarbenes Haus im Berliner Stadtteil Grunewald. Keine Polizeistreifen oder sonstige massive Bewachungsmaßnahmen, wie man es von anderen Botschaften im Herzen der Stadt gewohnt ist. Lediglich eine feste Umzäunung dient der Abgrenzung des afghanischen Territoriums auf deutschem Boden nach außen. "Wir haben keine Angst", lacht Botschaftsrat Abed Nadjib[1], "haben Sie Angst?" Nein! Eine wahrlich familiäre und äußerst herzliche Atmosphäre umgibt einen in der Botschaft dieses von Katastrophen gebeutelten Staates.

Das Land am Hindukusch hat eine lange Geschichte, gezeichnet von Kämpfen und Missständen (siehe auch: http://www.suedasien.info/laenderinfos/2829). Umso erstaunlicher ist die Wärme und Offenheit, die jemand erfährt, der sich wirklich versucht mit dieser Nation auseinander zu setzen und ihre Geschichte und das aktuelle Geschehen, wenigstens in Ansätzen zu verstehen. Die Erfahrung zeigt immer wieder aufs Neue, dass die aus Afghanistan stammenden Menschen ein Volk sind, das trotz der schweren Schicksalsschläge und überaus schlimmen und tragischen Erfahrungen, die viele von ihnen im Laufe ihres Lebens machen mussten und teilweise noch immer machen, die ihnen innewohnende Wärme und Offenherzigkeit nicht verloren haben.

Wann und wie wurde die Nordallianz gegründet? Und welches Ereignis war ausschlaggebend?

Abed Nadjib: Die Nordallianz wurde nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban im September 1996 gegründet. Die afghanische Regierung und viele ihrer Anhänger haben sich damals in den Norden Afghanistans zurückgezogen, um die weitere Zerstörung Kabuls zu verhindern und nicht noch mehr Todesopfer in Kauf zu nehmen. Der Rückzug geschah auf Anweisung Ahmad Shah Massouds.

Wieso in den Norden Afghanistans? – Die Gebiete im Norden standen unter der Kontrolle der afghanischen Regierung, wohingegen der Süden, die Grenzgebiete zu Pakistan und besonders die großen Städte von den Taliban kontrolliert wurden.

Nach ihrem Rückzug trafen sich die führenden Kommandanten in Jabal-ul-Siraj – sogar Gulbuddin Hekmatyar[2] war anfänglich mit dabei. Dort wurde über das weitere Vorgehen gesprochen und schließlich entschieden, ein gemeinsames Widerstandsbündnis zu bilden. Dieses Bündnis wurde "Nordallianz" genannt, weil wir im Norden waren und eine Allianz gegründet werden sollte. Seine Aufgaben sollten im Einzelnen darin bestehen, das Land zu verteidigen und wieder aufzubauen, Gespräche zu führen und Organe als Gegenüber der internationalen Gemeinschaft auszubilden. Denn nicht die Taliban waren anerkannt, sondern die Nordallianz! Ahmad Shah Massoud und der damalige Staatspräsident Professor Rabbani, der leider nicht mehr am Leben ist [Rabbani fiel im September 2011 einem Anschlag der Taliban zum Opfer], haben gleichermaßen deutlich gemacht, dass die Souveränität des Staates Afghanistan bewahrt werden müsse.

Wie wurde die Entstehung der Nordallianz von der Bevölkerung, Massouds Truppen und Ahmad Shah Massoud selbst erlebt?

Abed Nadjib: Die Truppen sind zusammen mit Massoud von Kabul in den Norden gegangen. Das symbolisiert auch den Rückhalt, den er bei seinen Truppen hatte. Ahmad Shah Massoud hat es geschafft, innerhalb von 24 Stunden aus Kabul abzuziehen und dabei keinen Mann und keine Waffe zurückzulassen. Sein Konzept ist aufgegangen. Er hat alles mit in den Norden genommen.

Zur Bevölkerung ist so viel zu sagen, dass diese im Norden ohnehin größer war als im östlichen, südlichen oder im Kabuler Bereich. Viele sind vor dem Krieg in den Norden geflohen. Der Norden war weit genug entfernt. Die eigentlichen Auseinandersetzungen gab es am Ende nur noch in der Hauptstadt Kabul, weil es um die Macht ging. Im Norden war es erst einmal ruhig. Als die Regierung und ihre Anhänger im Norden ankamen, gab es keinen Widerstand; die Bevölkerung hat die Menschen gut aufgenommen.

Massoud selbst erlebte vor allem, wie seine Verantwortung immer größer wurde. Es ging nicht allein darum, den Norden zu verteidigen; er musste auch die Menschen, die Regierung und damit auch die Nordallianz sichern. Da gehörte alles dazu – zu verteidigen und Sicherheit zu geben, Nachschub für sein Militär zu organisieren, die wirtschaftliche Lage zu verbessern und auch das Land gegenüber dem Ausland zu vertreten. Gleichzeitig musste auch Widerstand geleistet und die Frontlinie gesichert werden, da die Taliban versuchten, weiter nach Norden vorzudringen. Ein anderer wichtiger Punkt war, der Kabuler Bevölkerung Hoffnung zu geben, dass die Teilung nicht bestehen bleiben würde.

Ich habe Massoud, als er noch gelebt hat[3], zwischen 1996 und 2001 zwei bis drei Mal jährlich im Norden Afghanistans besucht. Bei unseren Gesprächen waren die Einheit Afghanistans und die Rückkehr nach Kabul meist im Fokus. Er wollte wieder in die Hauptstadt, aber dieses Mal mit einem Konzept – Wie gehen wir zum zweiten Mal nach Kabul? Wie können wir die Verantwortung übernehmen? Wie lösen wir unsere Sicherheitsprobleme? Wie lösen wir unsere Verteidigungsprobleme? Was machen wir mit der Wirtschaft? Wie bauen wir die Infrastruktur wieder auf?

Was waren Massouds Gründe, sich mit den vorherigen Gegnern im Bürgerkrieg zu verbünden? War die Polarisierung bereits so groß, dass eine andere Lösung nicht mehr in Frage kam?

Abed Nadjib: Ich glaube, die verschiedenen Gruppierungen waren sich alle einig, dass es sich hier um einen fremden Angriff auf Afghanistan handelte und man das Land wieder gemeinsam verteidigen musste. Diejenigen, die sich wirklich für die Souveränität des gesamten Afghanistans einsetzen wollten, hatten dasselbe Ziel: das Land zu verteidigen und die Kontrolle über Afghanistan zurück in afghanische Hände zu geben. In dieser Hinsicht waren sich alle einig; da gab es keine Unterschiede zwischen den Gruppierungen. Das wurde mir deutlich bei der Regierungssitzung und auch bei einzelnen politischen Gesprächen, bei denen ich mit dabei war – beispielsweise mit den Generälen Dostum und Mohaqiq, mit Herrn Karim Khalili, Herrn Mohseni, Herrn Nadri, oder auch mit Pier Geilani – sie waren sich alle einig: "Ja, wir gehören zur Nordallianz und wir verteidigen gemeinsam das Land, das von der anderen Seite erobert worden ist."

Aber die Taliban waren doch ursprünglich eine afghanische Gruppierung. Gab es schon in ihren Anfängen eine so starke äußerliche Einmischung, dass es sich hier um einen, wie Sie sagen, „fremden Angriff“ handelte?

Abed Nadjib: Die Bewegung der Taliban gibt es seit 1992/94. Aber eigentlich müssen wir die Taliban richtig definieren – was genau meint man mit den Taliban? Mit den afghanischen Taliban[4] hatten wir damals wie heute keine Probleme. Ahmad Shah Massoud hat in der Kabul-Zeit, von 1992 bis 1996, mehrfach versucht, mit den Taliban Gespräche zu führen. Er ist persönlich zu ihnen gegangen – zur höchsten Persönlichkeit der afghanischen Taliban, Mullah Omar und seiner Quetta-Shura – und hat mit ihnen gesprochen. Er hat dafür sein Leben aufs Spiel gesetzt; keiner wusste, ob er wieder zurückkommen würde. Er hat damals versucht, mit den Taliban eine Einigung zu finden. Eben das ist die Definition der Taliban für mich – mit den afghanischen Taliban haben wir keine Probleme!

Von den afghanischen Taliban haben viele ihre Waffen niedergelegt und sind zurück an die Seite Afghanistans – die Seite der Regierung – gekommen. Sie sind Abgeordnete im Parlament und Berater der afghanischen Regierung; zum Beispiel [Wakil] Ahmad Mutawakkil, der ehemalige Außenminister der Taliban, Mullah [Abdul Salam] Saif, der ehemalige Botschafter der Taliban in Islamabad, Mullah Rakite sitzt im Parlament und auch noch viele andere.

Welche genaue Rolle spielte Ahmad Shah Massoud bei der Gründung der Allianz?

Abed Nadjib: Es war seine Idee. Sein Konzept bestand darin, wieder alle zusammen zu bringen, wie er es auch in Zeiten des Widerstands gegen die Rote Armee in Afghanistan [1979-1989] getan hatte. Er war es damals, der den Widerstand koordiniert und organisiert hatte und genau das Gleiche tat er auch in diesem Fall. Er überzeugte die anderen von einem gemeinsamen Bündnis, indem er ihnen deutlich machte, dass ein Gesamt-Afghanistan die Vereinigung der verschiedenen Gruppen für die gemeinsame Verfolgung des gleichen Ziels bedeute. In dieser Allianz, die daraufhin gebildet wurde, war jede ethnische Gruppierung mit dabei – es gab keine einzige, die nicht Teil der Allianz war.

Wie wurde die Führungsfrage innerhalb der Allianz geklärt?

Abed Nadjib: Das war klar. Professor Rabbani war unser Staatspräsident. Er ist damals von einer Gruppe von 1.200 Frauen und Männern gewählt worden. Damals sagte er, dass er sein Amt niederlegen werde, wenn die gesamte Versammlung wieder zusammenkommen und ihn darum bitten würde. Doch solange die Lage sich nicht änderte, konnte es eine solche Zusammensetzung nicht geben – Afghanistan war damals schließlich geteilt. So konnte er die Verantwortung als anerkannter Staatspräsident weiterführen – und das hat er auch getan.

Die politische Verantwortung für die Nordallianz oblag damit ebenfalls Professor Rabbani. Die militärische Führung hatte jedoch Ahmad Shah Massoud inne.

Wer war alles an der Allianz beteiligt?

Abed Nadjib: Es waren sehr viele wichtige Personen beteiligt. Ich nenne die Namen, da gehört die Partei oder Gruppierung dann automatisch mit dazu: Karim Khalili, Hadschi Mohammad Mohaqiq, Akbari und Herr [Balkhi Said Mustafa] Kazemi [Hizb-e Wahdat-e Islami], General Dostum und Said Manzur Nadri [Djonbesh-e Melli], Hazrat Ali [Hizb-e Islami], Herr Ayatollah Mohammad Assif Mohseni [Harakat-e Islami] sowie Noorzai und Haji Abdul Qadir – die ganze ethnische Gruppierung, die früher an der Regierung in Kabul beteiligt war, war nun auch an der Nordallianz beteiligt. Der einzige, der sich nicht beteiligen wollte, war Gulbuddin Hekmatyar [Hizb-e-Islami]. Ahmad Schah Massoud hat ihm damals fairerweise – wie es seine Art war – die freie Wahl überlassen zu entscheiden, wohin er gehen wollte und ihm die Transportmittel zur Verfügung gestellt. Er hat ihn noch einmal extra gebeten, er möchte doch bitte bleiben. Aber es war sein eigener Wunsch. Er wollte Nordafghanistan verlassen und das hat er auch getan [Hekmatyar ging daraufhin ins Exil in den Iran].

Welche Rolle spielten ausländische Staaten und Organisationen?

Abed Nadjib: Ich denke für die ausländischen Mächte war es nicht einfach zu entscheiden, wen man akzeptiert und wen nicht. Ein grundsätzliches Signal setzte die internationale Gemeinschaft schließlich damit, dass sie die Taliban und mit ihnen das Islamische Emirat Afghanistan nicht anerkannten. Die einzigen Staaten, die es anerkannten und diplomatische Beziehungen zu den Taliban unterhielten, waren Pakistan, Saudi-Arabien, das Emirat [Vereinigte Arabische Emirate] und Tschetschenien. Der Rest der Welt nicht.

Die Vereinten Nationen waren froh, dass sie überhaupt Partner im Norden Afghanistans hatten. Vor allem als es dann die zwei Fronten gab und viele Tausende Flüchtlinge aus Kabul und den anderen Großstädten in den Norden flüchteten, weil sie nicht mehr gewillt waren, das Taliban-Regime zu akzeptieren und nicht mehr unter diesem leben wollten – wobei natürlich auch Menschen von der Nordallianz- auf die Taliban-Seite gewechselt sind.

Es gab einige tausend Menschen, die untergebracht werden mussten. Das war nicht einfach. Auch nicht für die Menschen, die sie aufgenommen haben – ihre eigenen Landsleute, Flüchtlinge im eigenen Land! Da haben die Vereinten Nationen tatkräftig mitgeholfen und sie unterstützt. Wären sie nicht gewesen, hätte es mit Sicherheit noch weitaus größere Probleme gegeben.

Welche Visionen hatte Massoud? Was wünschte er sich für Afghanistan? Und welche Rolle sollte die Nordallianz dabei spielen?

Abed Nadjib: Ich habe oft mit ihm gesprochen. Ahmad Shah Massoud wünschte sich ein Afghanistan zurück, in dem die afghanische Kultur mit all ihren Facetten, und vor allem auch mit dem Glauben als großem Bestandteil, von der Mehrheit wieder akzeptiert werden würde. Gleichzeitig hatte er den Wunsch, dass mehr Menschen den Weg der Demokratie akzeptierten. Er sah in der Demokratie den Weg, durch den man eine Staatsführung bekommen würde, die Afghanistan wieder aufbauen könnte. Er wünschte sich, dass die Unterstützung der Terroristen beendet und die Waffen auf allen Seiten niedergelegt würden; er wünschte sich die Anerkennung der Verfassung und der Frauenrechte, er wünschte sich Frieden!

Im Grunde genommen kann man sagen, dass seine Vision, sein Wunsch, in etwa das war, was 2001 umgesetzt worden ist. Er hat damals, als er in Kabul war, sogar vorgeschlagen, dass die UNO nach Afghanistan kommen solle. Sein Vorschlag war es, aus Kabul eine freie Zone zu machen – frei von unterschiedlichen Gruppen und Auseinandersetzungen; ein neutraler Bereich mit Waffenstillstand und bestenfalls ganz frei von Waffen. Alle beteiligten Afghanen sollten sich an einem runden oder eckigen Tisch zusammensetzen, sich Gedanken über die Probleme in ihrem Land machen – Sicherheit, Verteidigung, Wiederaufbau, Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge – und schließlich einen Plan zur Lösung eben jener Probleme entwickeln.

Kurz bevor er bei einem Attentat ums Leben kam, hat Ahmad Shah Massoud in Brüssel und Paris um Hilfe gebeten und versucht, der internationalen Gemeinschaft die Gefahr zu verdeutlichen. Er sagte: "Bitte helft uns, damit wir auch euch helfen können" – damit meinte er den Widerstand gegen die Terroristen. Er wusste, und das hat er auch gesagt, dass die Terroristen wesentlich weiter waren, als es dem Westen vielleicht wirklich bewusst war. Er sagte: "Ich weiß, wovon ich rede. Bitte passen Sie auf, demnächst sind sie vor Ihrer eigenen Tür und dann ist es zu spät!" Genau so ist es dann auch gekommen; das hat ihn das Leben gekostet – und später war dann der 11. September. Da hat sich die internationale Gemeinschaft dann entschlossen, Afghanistan und sich selbst zu helfen – Gott sei Dank!

Natürlich sind auch in den letzten zehn Jahren Fehler passiert, sowohl von Seiten der internationalen Gemeinschaft als auch von afghanischer Seite. Aber ich denke, der Widerstand gegen den Terrorismus war nicht umsonst, er war richtig und notwendig; der muss auch weitergeführt werden. Und vieles ist bereits erreicht worden: wir haben eine stabile Währung, eine Verfassung und wir haben zwei Mal Parlaments-, Senats- und Präsidentschaftswahlen durchgeführt. Es ist zwar nicht alles sauber abgelaufen, aber für afghanische Verhältnisse und nach 34 Jahren Krieg können wir auf das, was wir erreicht haben stolz sein! Die Terroristen haben mit Drohungen versucht, unsere Bevölkerung davon abzuhalten zur Wahl zu gehen – trotz allem sind sie hingegangen und haben gewählt. Das muss man auch sehen! Man muss dem afghanischen Volk zur Seite stehen und sie in ihrem Tun weiter unterstützen. Natürlich würden wir weit mehr tun, wenn wir die Möglichkeit hätten – aber tagtäglich gibt es Anschläge; seit 2007 werden die terroristischen Anschläge immer größer und effektiver. Die Terroristen sind einen ganzen Schritt weiter, als wir denken! Die verändern täglich ihr Konzept und werden immer grausamer. Nichtsdestotrotz haben wir in den letzten zehn Jahren viel erreicht: eine halbe Million Jungen und Mädchen gehen zur Schule, es ist einiges an Infrastruktur aufgebaut worden, es gibt wieder Telefon, Fernsehen, Rundfunk, Pressefreiheit – die es nie in Afghanistan gegeben hat. Darüber hinaus gibt es sieben verschiedene Universitäten in Afghanistan, 13.000 Studenten und Studentinnen verlassen jährlich die Universitäten. Es hat sich viel bewegt und ich denke, wir geben nicht auf und die internationale Gemeinschaft wird weiterhin an der Seite Afghanistans bleiben. Die Unterstützung ist notwendig!

Ist die Nordallianz lediglich ein Zweckbündnis für die Zeit gewesen oder sollte sie auch nach der Befreiung Kabuls von den Taliban und der Rückkehr der Regierung in die Hauptstadt bestehen bleiben?

Abed Nadjib: Die, die an der Nordallianz beteiligt waren, haben die Verantwortung für die Verteidigung des Landes übernommen – in jeder Hinsicht. Neben der militärischen Verteidigung bedeutete das auch, eine Zukunftsperspektive zu schaffen. Die Rückkehr nach Kabul war das oberste Ziel. Dort wollte man kurz die Verantwortung übernehmen und eine Übergangsregierung bilden, die die Verfassung ausarbeiten und die Wahlen vorbereiten sollte. Die neu gegründeten oder bereits existierenden Parteien sollten sich zur Wahl stellen, um schließlich den Präsidenten und das Parlament zu wählen. Ahmad Shah Massoud und die gesamte ehemalige Nordallianz wollten der Demokratie den Weg ebnen – die ersten Bausteine für ein demokratisches Afghanistan legen.

Der Wunsch zurück nach Kabul zu gehen war sehr groß. Die Frage war nur wie. Man hätte die Stadt jederzeit zurückerobern können. Doch war das Konzept dafür noch nicht reif genug und darüber hinaus hätten wir dafür Hilfe benötigt. Man wollte die Ereignisse von 1992 nicht wiederholen und nicht mehr kämpfen. Vielmehr sollte das Land dieses Mal aufgebaut und Einigkeit zwischen den Gruppierungen geschaffen werden. Nach unserer Auffassung – nach afghanischer Art – benötigte das jedoch mehr Zeit. Afghanistan war schließlich geteilt und man konnte sich kaum mit den anderen Provinzen beraten. Es gab zwar Kontakte, aber offizielle Gespräche über die Zukunftsperspektive konnten nicht geführt werden. Erst mit der Konferenz auf dem Petersberg kam es zu diesen Gesprächen.

Was hielt Ahmad Shah Massoud persönlich von den strengen Gesetzen der Taliban? Wie stand er selbst den Frauen gegenüber?

Abed Nadjib: Massoud hat die scharfen Gesetze der Taliban nie verstanden. Er war selbst Muslim. Und Afghanistan ist ein islamischer Staat und der Islam gehört zu unserer Tradition und zu unserer Kultur. Er ist Teil des Staates, der Regierung und auch der Gesetze. Aber kein solch schrecklicher Islam, wie die Taliban ihn präsentierten. Das gehört nicht in die Sharia und nicht in den Islam!

Wir haben alle gesehen, was die Taliban von 1996 bis 2001 in Afghanistan getrieben haben – vor allem hinsichtlich der Frauenrechte. So sehr wie die Taliban diese verletzt haben, sind sie nie zuvor verletzt worden: Frauen wurden lebendig begraben, die Finger wurden ihnen abgeschnitten, wenn sie Nagellack trugen, Gesichter durften nicht gezeigt werden, die Schritte auf der Straße nicht gehört – und hörte man die Geräusche der Schuhe dennoch, bekam man die Peitsche. Von Menschenrechten kann man hier nicht mehr sprechen. Es gab keine Pressefreiheit, Kinder durften die Schule nicht mehr besuchen, Fernsehen, Radio, Zeitung – alles wurde verboten, Männer mussten sich einen Bart mit einer bestimmten Länge stehen lassen – mit all diesen Dingen war Ahmad Shah Massoud überhaupt nicht einverstanden. Auch der Rest der Afghanen nicht, das hat mit Massoud allein nichts zu tun.

Ahmad Shah Massoud – wie ich selbst auch – hat Demokratie-Zeiten genossen; Zeiten mit dem König, Freiheit – das hat es in Afghanistan alles gegeben. Natürlich gehört der Schleier mit zur Kultur unseres Landes, aber damals gab es Frauen, die sich verschleierten, genauso wie welche, die es nicht taten; die Frauen kleideten sich nach afghanischer Art genau so, wie sie sich selbst wohlfühlten. Und eben das war auch Ahmad Shah Massouds Wunsch. Er hatte überhaupt keine Probleme mit den Frauen.

Als wir einmal über dieses Thema gesprochen haben, habe ich ihn gefragt, wie er sich das Ganze vorstellt. Da hat er sich umgedreht und gelacht. Er sagte: "Schau mal, lass doch bitte einen Fremden zu einem Talib gehen, einem afghanischen Talib, den zu fragen: 'Bist du verheiratet? Wie heißt deine Mutter? Wie alt ist deine Mutter?' Dann schlägt er dich zusammen. Aber lass doch mal bitte einen zu uns kommen, ich stelle ihm meine Frau vor; und du bist mit einer deutschen Frau verheiratet." – Er hatte damit überhaupt keine Probleme. Er lebte zwar nach afghanischer Tradition und nach dem afghanischen Glauben, aber eben nicht so, wie man es von den Taliban kennt. Das ist weder unser Glaube noch unsere Kultur!

Ist seine Frau verschleiert gewesen?

Abed Nadjib: Nein! Sie war nicht verschleiert. Massoud hatte wirklich Achtung vor den Frauen.

Er wünschte sich ihre Beteiligung bei der Zukunft Afghanistans. Sie gehören zu unserem Land; wie konnte man das trennen?! Glücklicherweise haben wir seit 2001 auch weibliche Abgeordnete im Parlament, Ministerinnen im Kabinett, Diplomatinnen in Botschaften, Mitarbeiterinnen im öffentlichen Dienst, im Bereich der Bildung, der medizinischen Versorgung und auch in anderen Bereichen. Endlich können Frauen auch unverschleiert im Fernsehen auftauchen. Da gib es schon so schöne Sendungen wie hier in Deutschland: 'Afghanistan sucht den Superstar', 'Wer wird Millionär', Sendungen darüber, wer am besten kocht und so weiter. Von all diesen Dingen hat man früher geträumt und nun sind sie endlich Wirklichkeit.

Natürlich muss noch einiges getan werden – vor allem im Bereich der Bildung. Denn Bildung ist der größte Schatz eines Volkes und wer ungebildet bleibt, kann sich nicht einmal selbst helfen. Ich glaube, wir Afghanen haben gelernt, dass Bildung unheimlich wichtig ist. Darum gibt es drei Mal täglich Schulunterricht und zwei Mal täglich Vorlesungen an den Universitäten. Viele Staaten haben uns geholfen: es gibt seit 1923 eine deutsche Schule in Kabul, die alle Zeiten überlebt hat; es gibt eine französische, eine amerikanische und eine türkische Schule, außerdem gute Universitäten, die auch Auslands-Partnerschaften anbieten – sowohl in die Nachbarstaaten als auch in westliche, europäische Staaten. Da findet ein regelmäßiger Austausch für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen statt. Aber wir brauchen weiterhin Hilfe. Die Seele des afghanischen Volkes ist krank. Nach den langen Jahren im Krieg brauchen die Menschen erst einmal Behandlung. Sie müssen zur Ruhe kommen. Aber so wie es jetzt aussieht, wie sollen sie zur Ruhe kommen?!

Herr Nadjib, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.



[1] Abed Nadjib ist der Gesandte Botschaftsrat und Geschäftsträger der afghanischen Botschaft in Berlin. Der afghanische Diplomat war ein enger Vertrauter Ahmad Shah Massouds und dessen Vertreter in Deutschland.

[2] Einer der bekanntesten afghanischen Feldherren, der im Krieg gegen die sowjetischen Truppen große Unterstützung aus dem Ausland, vor allem von Pakistan und den USA, erhielt. Der paschtunische Kriegsherr war ein langjähriger Verbündeter und gleichzeitig der größte Konkurrent Ahmad Shah Massouds.

[3] Ahmad Shah Massoud kam am 9. September 2001 bei einem Selbstmordanschlag der Al Qaida ums Leben. Damit hatte Osama Bin Laden ein Etappenziel vor dem Supergau vom 11. September geschafft: die Schwächung des Widerstands gegen die Taliban und ihre Verbündeten.

[4] Die afghanischen Taliban, die Gruppierung um Mullah Omar, bekamen große finanzielle und militärische Unterstützung aus Pakistan und Saudi-Arabien (anfänglich auch aus den USA). Seit der Verbindung Omars mit Osama Bin Laden wurden die Taliban außerdem von Tausenden Anhängern Bin Ladens unterstützt.

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.