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Bereits seit 2007 verhandeln Indien und die EU über ein weit reichendes Freihandelsabkommen. Dieses umfasst alle relevanten Wirtschaftsbereiche - von Industrie, Landwirtschaft und Fischerei über Dienstleistungssektoren wie Banken und Einzelhandel bis hin zu Patenten, der öffentlichen Auftragsvergabe und der Ausbeutung von Rohstoffen. Nächstes Jahr sollen die Gespräche abgeschlossen werden.
In Europa und Indien weiß kaum jemand etwas über den geplanten Deal. Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt. Weder Textentwürfe noch Verhandlungspositionen werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Regierung in Delhi hält sogar ihre Studien zu den Auswirkungen des Abkommens unter Verschluss. Und gegenüber dem indischen Parlament verfolgt sie eine Des-Informationspolitik.
Die bruchstückhaften Infos über die Verhandlungen, die bisher an die Öffentlichkeit gesickert sind, haben soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Entwicklungs- und Gesundheitsorganisationen alarmiert. Sie befürchten, dass das geplante Abkommen Armut, soziale Ungleichheit und den ökologischen Raubbau in Indien verschärfen wird. Auch Arbeitsrechte und der Zugang zu Medikamenten seien bedroht, und zwar nicht nur in Indien, sondern weltweit. Kurz vor dem EU-Indien-Gipfel haben deshalb zum wiederholten Male hunderte Organisationen aus Europa und Indien zu einem sofortigen Stopp der Verhandlungen aufgerufen.
Am Beispiel Einzelhandel lässt sich anschaulich zeigen, welche dramatischen Auswirkungen die Liberalisierungsoffensive haben könnte. Nach der Landwirtschaft ist er die zweitwichtigste Einkommensquelle in Indien. 33 Millionen Menschen leben vom Straßenhandel oder von dem, was sie in ihren kleinen Läden, den kiranas, umsetzen. Laut Studien der Organisation India FDI Watch ist ihre Lebensgrundlage bereits jetzt durch die Expansion von Supermarktketten wie Reliance Fresh und More bedroht, die sie schlichtweg nieder konkurrieren. Auch Indiens Landwirtschaft ist gefährdet, denn Handelsketten bevorzugen global agierende Zulieferer und große Agrarbetriebe.
Der Markteintritt von westlichen Einzelhandelsriesen wie Carrefour, Metro oder Tesco würde diese Dynamik dramatisch beschleunigen. Angesichts schrumpfender Märkte in Europa, einer Milliarde potenzieller indischer KundInnen und der wachsenden Mittelschicht des Landes wollen diese unbedingt Zugang zum indischen Markt. Als Großhändler sind sie dort bereits präsent. Aber der indische Einzelhandel ist gegenüber ausländischen Investoren noch weitgehend abgeschirmt.
Das könnte sich mit dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien ändern. Die europäische Supermarktlobby drängt darauf, ausländische Direktinvestitionen im indischen Einzelhandel zu liberalisieren. Im Klartext: Metro & Co. sollen Filialen eröffnen können wo sie wollen, ohne Beschränkungen von Anzahl und Größe, ohne Regulierung von Preisen und Öffnungszeiten. Und ohne Auflagen wie die, bestimmte Zulieferer zu bevorzugen beziehungsweise soziale sowie ökologische Standards in der Lieferkette einzuhalten. So genannte "ökonomische Bedarfstests", die in Ländern wie Frankreich, Dänemark, Italien und Portugal Bedingung für eine neue Niederlassung sind, sollen erst gar nicht eingeführt werden.
Die EU-Kommission hat für derartige Forderungen ein offenes Ohr. Schon vor Beginn der Verhandlungen mit Indien versprach der damalige Handelskommissar Peter Mandelson europäischen Wirtschaftsvertretern: "Diese Verhandlungen führen wir in ihrem Interesse." Seither wird die Brüsseler Konzernlobby regelmäßig exklusiv über den Stand der Gespräche mit Indien informiert. Der europäische Dachverband des Einzel-, Groß- und Außenhandels, EuroCommerce, ist ganz aus dem Häuschen über den "engen Kontakt mit den EU-Verhandlern" und die "konstruktive Arbeitsbeziehung" mit der Kommission.
In einer eigenen Arbeitsgruppe identifizieren Einzelhandelslobbyisten, Kommissionsbeamte und EU-RegierungsvertreterInnen "Marktzugangsbarrieren" in Indien. Und sie schmieden Pläne, wie diese aus dem Weg geräumt werden können. Laut der Metro-Gruppe lernt die Kommission so am besten, wie ein Unternehmen zu denken und auch so zu sprechen. EuroCommerce preist die Arbeitsgruppe als "riesiges Hörrohr, mit dem die Kommission den Wünschen der Industrie lauscht".
Schützenhilfe bekommen Metro & Co. auch von bereits auf dem indischen Markt etablierten Ketten wie Bharti-Walmart und Reliance sowie den indischen Unternehmensverbänden CII und FICCI, die ebenfalls auf die Öffnung des indischen Einzelhandels drängen - und in einflussreichen Beratergremien des indischen Premiers und des Wirtschaftsministeriums sitzen. Es überrascht also nicht, dass das Ministerium seit Sommer einen Vorschlag zirkuliert, nach dem Supermärkte in Indien in Zukunft zu bis zu 49 Prozent in ausländischer Hand sein könnten.
Ähnliche Geschichten wie beim Einzelhandel lassen sich auch für die anderen Bereiche des EU-Indien Freihandelsabkommens erzählen. Sowohl Indien als auch die EU verfolgen hier die Agenda transnationaler Kapitalfraktionen - zu Lasten von Millionen Menschen in Indien, in Europa und anderen Gegenden der Welt. Gesundheitsorganisationen kritisieren seit Monaten, dass die EU-Forderungen zum Schutz geistiger Eigentumsrechte die indische Generika-Industrie bedrohen, die weltweit Menschen mit lebenswichtigen Medikamenten versorgt. Die Liberalisierung des indischen Bankensektors wird ärmeren Menschen und denjenigen, die in ländlichen Regionen leben, den Zugang zu Finanzdienstleistungen erschweren und droht außerdem, das indische Finanzsystem zu destabilisieren. Radikale Marköffnungen in der Landwirtschaft, Fischerei und im industriellen Sektor werden viele Arbeitsplätze gefährden, bis hin zur Verdrängung ganzer Branchen. Kleine Fischereibetriebe können beispielsweise nicht überleben, wenn europäische Schleppnetzboote Zugang zum indischen Meer erhalten. Und auch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wird durch weitere Marktöffnungen vorangetrieben.
Auch in Europa werden Menschen die negativen Auswirkungen des geplanten Abkommens spüren. Die indische Wirtschaft möchte hier hauptsächlich Gesundheits- und Qualitätsstandards im Lebensmittelsektor abbauen. Und sie möchte Ihr Personal ungehindert über den europäischen Kontinent verschieben können - ohne sich mit lästigen Dingen wie Lohnbestimmung und Arbeitsstandards herumschlagen zu müssen. Die damit einhergehende Liberalisierung des Arbeitsmarktes würde eine weitere Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsrechten auslösen.
Doch es regt sich auch Widerstand gegen das geplante EU-Indien Freihandelsabkommen. Seit Monaten mobilisieren StraßenhändlerInnen in ganz Indien gegen den Deal. Proteste von AIDS-AktivistInnen sind an der Tagesordnung. Und immer mehr indische Handelskammern fordern einen sofortigen Stopp der Verhandlungen, weil sie allein die Interessen indischer Großkonzerne wie TATA oder Mahindra widerspiegeln. Anfang Dezember wurden sie von einer Gruppe von Abgeordneten des Europaparlaments unterstützt, die in einem Brief an EU-Handelskommissar Karel de Gucht so gut wie alle Verhandlungsbereiche scharf kritisierten.
Diese kritischen Stimmen waren auf dem EU-Indien Gipfel nicht zu hören. Hier traf sich allein die politische Elite beider Supermächte, Abgeordnete und Zivilgesellschaft hatten keinen Zugang. Doch sowohl in Delhi als auch Brüssel gab es Protestaktionen und Demonstrationen. Die machten deutlich: es gibt keine gesellschaftliche Unterstützung für das EU-Indien Freihandelsprojekt.
Der Artikel basiert auf der im September 2010 von Corporate Europe Observatory und India FDI Watch herausgegebenen Studie "Trade Invaders - How big business is driving the EU-India negotiations".
Zu der Studie gibt es auch einen kurzen Videoclip.
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