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31. März 2012. Kommentare: Politik & Recht - Afghanistan Drohende Unsicherheit

Ohne Beteiligung der Bevölkerung kann es in Afghanistan keinen Frieden geben

Übergang und Transformation waren die Schlüsselthemen bei der Afghanistan-Konferenz in Bonn im Dezember. Delegationen aus westlichen Ländern, Afghanistan und seinen Nachbarn versuchten, Wege zu Stabilität und Frieden zu entwickeln. Aber das ist ­unmöglich ohne die wirklichen Akteure – das afghanische Volk.

In den letzten zehn Jahren gab es eine Unmenge von Afghanistan-Konferenzen. Bonn II war die jüngste. Ihre Agenda ähnelte vorhergegangenen; zu den Themen gehörten Sicherheit, Korruption, Menschenrechte mit der Betonung von Frauenrechten, Drogen und Rechtsstaatlichkeit. Vorrangig waren Übergangsphase, Friedens- und Versöhnungsprozess und Unterstützung für den afghanischen Staat nach 2014.

Was hat sich seit Bonn I, der ersten Afghanistan-Konferenz von vor zehn Jahren, getan? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hoffnung, die mit der ersten Konferenz bei den Afghanen aufgeblüht war, fast verschwunden ist. Die Menschen betrachten den westlichen Einfluss kritisch. Die internationale Gemeinschaft ist des Themas müde geworden – also fällt es westlichen Regierungen politisch und ökonomisch schwer, weiteres militärisches Engagement und künftige Wirtschaftshilfe in heutigen Dimensionen zu rechtfertigen.

Bei Bonn II konzentrierte sich Afghanistans Präsident Hamid Karsai vor allem auf die Eigenverantwortung seines Landes für Sicherheit und Korruptionsbekämpfung. Er betonte, wie wichtig es sei, trotz vieler Rückschläge wieder mit den Aufständischen Friedensverhandlungen aufzunehmen. Auch fordert er internationale Unterstützung für Afghanistan für mindestens zehn weitere Jahre – für eine "Dekade der Transformation".

Auf der ersten Blick mag Präsident Karsais Vision plausibel scheinen. Aber die Realität sieht anders aus. Wir meinen, dass die internationale Gemeinschaft sich etwas vormacht; allerdings macht sich die afghanische Regierung noch viel mehr vor. Der Graben zwischen Reden und Handeln wächst. Die Ziele, die in Bonn gesteckt wurden, werden allenfalls erreicht, wenn sowohl die internationale Gemeinschaft als auch Afghanistans Regierung ihre Politik entschlossen und konsequent ändern.

Übergang

Wie in der Abschlusserklärung von Bonn zusammengefasst wurde, ist das Hauptziel der Übergangsphase, dass die afghanische Regierung die volle Verantwortung für die innere Sicherheit übernimmt. Um das zu gewährleisten, hat die internationale Gemeinschaft zugesagt, auch nach 2014 noch die afghanischen Sicherheitskräfte ANSF (Afghan National Security Forces) zu trainieren, auszustatten und zu finanzieren. Diese Unterstützung ist an die Bedingung geknüpft, dass Afghanistan nach und nach mehr Steuern und andere Einnahmen erwirtschaft, um eines Tages die Sicherheitskräfte selbst finanzieren zu können. Definitive Zusagen der internationalen Gemeinschaft für die künftige ANSF-Finanzierung stehen noch aus.

Die größten Sicherheitsprobleme sind die Motivation und die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte. Afghanische Kabinettsmitglieder und hochrangige Militärs sagen unter vier Augen, dass die ANSF ohne ausländische Hilfe außerstande wären, die amtierende Regierung gegen eine Offensive der Aufständischen "auch nur eine Woche lang" zu verteidigen.

Die Vorstellung von einer Armee, die imstande ist, ihr Land zu verteidigen, passt zu der eines modernen Staates. Auf dessen Etablierung arbeitet die amtierende Führung hin. Leider widerspricht dies aber der ungewöhnlichen Sicherheitstradition des Landes. Afghanistan wurde historisch nie von einer regulären Armee verteidigt, sondern von seinem Volk, das wieder und wieder den schwachen Staat retten musste. Die einzige Chance, um die Aufständischen zu schwächen und einen vollständigen Staatskollaps zu vermeiden, ist die Wiederbelebung eines echten Paktes mit der afghanischen Bevölkerung. Das sieht auch die NATO so, wie die BBC unter Berufung auf ein durchgesickertes Dokument berichtet hat. Die afghanischen Sicherheitskräfte mögen mit ihrer beeindruckenden Soldatenzahl statistisch Eindruck machen. Sie können den Krieg aber nicht allein gewinnen. Wesentlich sind vor allem Einsatzwille und Kompetenz des Offizierskorps. Offenbar fehlt es den ANSF aber an beidem. Qualität muss endlich ernster genommen werden als Quantität.

Eine weitere große Herausforderung ist, die Armee so zu motivieren, dass sie entschlossen gegen die Aufständischen kämpft. Es ist schwer, eine stärkere Legitimation als den Jihad zu finden, den heiligen Krieg für den Islam, mit den Taliban als seinen selbsternannten Vorreitern. Amrullah Saleh, ein früherer Geheimdienstdirektor, meint, die Idee einer "sauberen Regierung" könne Soldaten dazu bringen, für eine gerechte Sache zu kämpfen.

Aber in Afghanistan mit seinen starken religiösen Bindungen und Stammes­traditionen hat der Kampf für eine inte­gre Regierung bei weitem nicht den Stellenwert von Jihad. So wie die ANSF augenblicklich formiert sind, werden sie wohl zu von diversen Warlords kommandierten Söldnertruppen degenerieren. Jeder dieser Kriegsfürsten wird dann ein kleines Territorium beherrschen und so den Triumph der Taliban hinauszögern.

Frieden und Versöhnung

Die Abschlusserklärung von Bonn enthält ehrgeizige Prinzipien, die jedoch kaum mehr sind als Rhetorik. Unter anderem ist die Rede von einem "afghanisch bestimmten" Prozess der Friedensverhandlungen. Dies steht in enormem Widerspruch zur Realität. Die afghanische Bevölkerung hat praktisch keinen Anteil an Deals hinter verschlossenen Türen. Die afghanische Regierung als einziger Vertreter eines selbstbestimmten Afghanistan wird aber von Gesprächen mit den Aufständischen ausgeschlossen. Letztes Jahr begann Washington Geheimverhandlungen mit den Taliban, um auszuloten, ob sie schon vor dem Abzug der US-Truppen zu Friedensgesprächen bereit wären. Karsai fürchtet seither, die USA könnten sich mit den Taliban einigen, ohne seine Regierung zu konsultieren. Die gewählten Volksvertreter – Parlament und die Provinzräte – werden sowohl von Karsai als auch von seinen westlichen Verbündeten ignoriert.

Verständlicherweise wollen die Taliban nur mit denen verhandeln, auf die es ankommt – Washington und die westlichen Verbündeten. Afghanistans Regierung versucht verzweifelt, den Fuß in die Tür zu bekommen. Ihr Motiv ist klar: Das Abkommen, mit dem Washington den
Vietnamkrieg beendete, bedeutete für die Verbündeten der USA eine Katastrophe und für die Aufständischen den Sieg. Die USA handelten es direkt mit den vietnamesischen Aufständischen aus – hinter dem Rücken ihrer offiziellen Alliierten.

In Afghanistan scheint es ähnlich zu laufen. Aus schierer Verzweiflung geht Präsident Karsai mittlerweile auf weniger wichtige Rebellengruppen als die Taliban zu – etwa auf Hizb-e-Islami, die der aus dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre berüchtigte Warlord Gulbuddin Hekmatyar befehligt.

Der Bonner Erklärung zufolge soll der Friedensprozess "alle einbeziehen und das legitime Interesse aller Menschen in Afghanistan vertreten, unabhängig von Geschlecht oder sozialem Status". Aber die momentane Zusammensetzung des sogenannten "Team Kabul" – den Begriff hat der Politiker Ashraf Ghani geprägt – ist sehr elitär: Es besteht aus der afghanischen Führung (dem afghanischen Präsidenten und theoretisch dem Kabinett, aber in der Praxis nur einigen seiner Berater), dem Kommandanten der US-Streitkräfte, dem US-Botschafter sowie dem US-Sonderbeauftragten für Pakistan und Afghanistan.

Präsident Karsai hat frühere Talibangegner in den Hohen Friedensrat berufen. Das war ein Zugeständnis an alle, die vor einem Abkommen mit den Taliban warnen. Afghanische zivilgesellschaftliche Gruppen kritisieren jedoch die Mitgliedschaft früherer Milizen im Friedensrat ebenso wie dessen Intransparenz bezüglich Aktivitäten und Zielen.

Wieder einmal wurden die afghanischen Wähler marginalisiert. Selbst ihre demokratisch legitimierten Volksvertreter werden auf Abstand gehalten. Ende Januar 2012 lag dem Parlament immer noch keine Kopie der Vereinbarung zur strategischen Partnerschaft vor, die Karsai mit Italien, Frankreich und Britannien in Europa unterzeichnete. Angesichts dieser Tatsachen ist die Hoffnung unrealistisch, das afghanische Parlament werde eine wichtige Rolle im Friedensprozess spielen. Selbstverständlich lehnen die Taliban die afghanische Verfassung ab. Aber auch viele prowestliche Gruppen – besonders in der früheren Nordallianz – tun sich ebenfalls mit einigen Punkten der Verfassung schwer. Sie akzeptieren sie und manche Normen des herrschenden Pluralismus nur insoweit, als sie ihren politischen Interessen dienen.

Die Taliban wurden aufgefordert, ihre Verbindungen zum internationalen Terrorismus zu kappen. Selbst wenn sie das tun sollten, könnte das nur ein taktisches Manöver sein. Ob es auf Dauer dabei bliebe, hinge davon ab, wie ihnen das neue politische Arrangement gefällt. Es gibt keine Garantie, dass sie nicht wieder Verbindung zum Terrorismus aufnehmen, sobald die internationalen Truppen abziehen.

Nachdem die US-Truppen aus dem Irak fort waren, brachen zwischen den dortigen Verbündeten der USA sofort Kämpfe aus. So ein Szenario ist für Afghanistan nach dem Abzug der ISAF (International Security Assistance Force) 2014 nicht auszuschließen.

Die Bonner Erklärung fordert, dass "die Region den Friedensprozess und seine Ergebnisse respektieren und unterstützen" soll. Das ist Wunschdenken. In Wirklichkeit brodelt die Region vor Rivalitäten, Aggressionen und Misstrauen. Indien und Pakistan sind permanente Gegner. Irans Opposition zum Rest der Welt ist bekannt. China misstraut den Absichten der USA. Russland betrachtet Afghanistan weiter als seinen Hinterhof, duldet aber US-Einfluss, sofern der Krieg gegen Drogen erfolgreich läuft. Nur Indien steht fest an der Seite des Westens und hilft, Afghanistan wieder aufzubauen. Dies wiederum sieht man in Pakistan ungern.

Pakistan ist die größte Schwachstelle der Pläne der amerikanischen und afghanischen Regierungen. Es heißt, Pakistan unterstütze Aufständische in Afghanistan zur Selbstverteidigung und als Instrument seiner hegemonialen Vorstellungen. Pakistans Armee arbeitet mit Mythen, etwa dass Pakistan als letzter und wichtigster Verteidiger des Islams dieser Erde militärisch unschlagbar sein müsse.

Pakistans Generäle müssen sich engagiert geben, um eine radikalisierte, manipulierte und höchst zerstrittene Bevölkerung einig zu halten, die außer der gemeinsamen Religion nicht viel verbindet. Die Unterstützung militanter Gruppen im Ausland, wie sie der pakistanische ­Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) angeblich betreibt, geht aber weit darüber hinaus, einfach die Belange von Moslems zu fördern. Afghanistan ist das beste Beispiel für diese Politik.

Pakistan nahm an Bonn II nicht teil. Dort gelang es Widersachern nur mit Mühe, ein gemeinsames Ziel vorzutäuschen. Wäre Pakistan dabei gewesen, wäre der Eindruck gemeinsamer internationaler Bemühungen stärker gewesen. Aber in der Sache hätte es wohl wenig zum Friedensprozess beigetragen.

Afghanistan nach 2014

Wie muss sich Afghanistan auf den Abzug der ISAF 2014 vorbereiten? Die Bonner Erklärung spricht von "Stärkung der afghanischen Souveränität, durch Konsolidierung der staatlichen Institutionen, die der afghanischen Bevölkerung dienen sollen". Sie beschwört zudem eine Region, "die Frieden und Wohlstand fördert", sowie eine "tiefere und breit angelegte Partnerschaft mit der internationalen Gemeinschaft". Das klingt nach Utopie.

Afghanistan ist ein fragiler Staat in einer feindseligen Umwelt. Die internationale Gemeinschaft wird geleitet von internen Dynamiken und Notwendigkeiten ihrer Mitgliedsländer. Deren Wähler haben den Afghanistan-Krieg längst satt. Momentan gibt es nur wenig Hoffnung auf eine Konsolidierung der Unabhängigkeit und einen funktionstüchtigen afghanischen Staat.

Afghanen nehmen internationale Konferenzen nicht mehr so wichtig. Es gab schon zu viele, und sie haben zu wenig ­gebracht. Die afghanische Gesellschaft braucht mehr Zeit, um in Diskussionen Konsens zu erreichen. Es wurde enormer internationaler Druck ausgeübt, um schnelle Entscheidungen zu treffen, und Afghanistans Regierung hat sich ihm gebeugt. Zu viele Entscheidungen sind von Absprachen mit Ausländern geprägt.

Heimische Strukturen und Entscheidungsfindungsprozesse wurden verdrängt und das afghanische Volk wurde vom Friedensprozess entfremdet. Die düstere Konsequenz: desillusionierte Menschen, die kein Vertrauen mehr in ihre gewählten Vertreter haben und – das ist noch wichtiger – jede Hoffnung auf Frieden und Demokratie verloren haben. Die Aussichten für Afghanistan nach 2014 sind nicht gut.

 


Aus: E + Z Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 03-2012, 53. Jahrgang.

 

Quelle: Der Beitrag erschien im Orginal im März 2012 in E + Z Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 03-2012, 53. Jahrgang.

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