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13. Januar 2004. Nachrichten: Wirtschaft & Soziales - Indien Die Wendehälse von Indien

Indien ist zugleich Opfer und Nutznießer der Globalisierung. Vor zwölf Jahren sah sich die Regierung zu radikalen Wirtschaftsreformen gezwungen. Die haben dem immer noch armen Land einen Boom beschert. Ausgespart blieb aber bisher die Landwirtschaft. Das das ändert sich gerade.

Mumbai. Im Juni 1991 musste die indische Zentralbank einen Teil ihrer Goldreserven in die Schweiz fliegen und in den Tresoren der Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der Zentralbank der Zentralbanken, abliefern. Der Zusammenbruch des sowjetischen Allianzpartners und der Ölpreisanstieg nach dem ersten Golfkrieg hatten eine bereits bedrohliche Außenhandelsposition in eine Krise verwandelt. Indien war hoch verschuldet und verfügte nur noch über Devisen für Importe von knapp zwei Wochen. Dem Internationalen Währungsfond (IWF) und den westlichen Gläubigerstaaten genügte dies nicht für einen ungedeckten Stützungskredit. Indien musste zuvor die Demütigung schlucken, seine Goldbestände als Garantie zu hinterlegen. Es war eine Erfahrung, die das Land nicht vergaß.

Gut zwölf Jahre später: Am 14. Dezember 2003 konnte der Gouverneur der "Reserve Bank of India" seinem Finanzminister melden, dass die Devisenreserven - die längst wieder retablierten Goldbestände nicht mitgerechnet - 100 Milliarden Dollar überschritten hatten.

Zwischen beiden Daten liegt ein gutes Jahrzehnt mit Reformen, in denen der Staat eine radikale Abkehr von 40 Jahren Wirtschaftspolitik vollzogen hat. Der erste Premierminister Jawaharlal Nehru hatte davon geträumt, das arme und vom Kolonialismus gebeutelte Land mit einer Mischung aus Privatkapital und staatlichem Dirigismus rasch in die Ränge der reichen Industriestaaten zu führen. Daraus war ein Albtraum geworden. 45 Jahre nach der Unabhängigkeit war das Land immer noch eines der ärmsten Länder der Welt, zwar mit einer beachtlichen industriellen Infrastruktur, aber überwuchert von einem Gestrüpp bürokratischer Reglemente und Vorgaben. Es finanzierte eine Armee von korrupten Beamten und ineffizienten Staatsfirmen, statt die exorbitanten Steuereinnahmen in produktive soziale Investitionen zu lenken. Das langfristige Jahreswachstum stagnierte bei 3.5 Prozent - was Ökonomen zum schnöden Ausdruck "Hindu-Wachstumsrate" provozierte. Bei einer Bevölkerungszunahme von über zwei Prozent war der Effekt viel zu klein, um die Distanz zu den reichen Staaten zu verkürzen.

In den letzten zwölf Jahren hat das Land sein lähmendes Verordnungsnetz ausgeforstet. Zuerst wurde der Außenhandel liberalisiert, und die weltweit höchsten Einfuhrzölle wurden sukzessive gesenkt. Gleichzeitig öffnete Indien zunehmend seine Tür für Auslandsinvestitionen und befreite die Industrie von den bisherigen Vorgaben über Kapitalbeteiligungen, Standort, Volumen, Produktions- und Beschäftigtenzahlen. Steuersenkungen beim Güterumlauf und den Einkommen erhöhten die Spar- und Investitionsrate der Unternehmen und Haushalte.

Die Banken und Versicherungen, von Nehrus Tochter Indira Gandhi 1971 verstaatlicht, wurden zwar nicht reprivatisiert, aber sie erhielten Konkurrenz von in- und ausländischen Privatinstitutionen und die nötige Autonomie, um sich im neuen Umfeld zu behaupten. Aus den großen staatlichen Grundstoffindustrien zog - und zieht sich - der Staat als Investor immer noch sehr zögerlich zurück. Dessen riesiger Apparat ist ebenfalls kaum angetastet worden und stellt sicher, dass die wirtschaftliche und persönliche Bewegungsfreiheit eng umschrieben bleibt. Nur Industrien, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind - namentlich die Informationstechnologie - zeigen, zu was das Land fähig ist, wenn es nicht von administrativen und steuerlichen Belastungen gefesselt ist.

Das lange Verzögern von Reformen hat seine guten historischen und sozialpolitischen Gründe. Die koloniale Erfahrung liegt erst ein halbes Jahrhundert zurück. Die Fremdherrschaft hatte zudem in erster Linie die wirtschaftliche Ausbeutung im Auge gehabt. "Vergessen Sie nicht, dass wir von einer Handelsgesellschaft unterjocht wurden", meinte einst ein Minister auf die Frage, warum Indien - im Gegensatz zu China - mit seinen Reformen erst begann, als die wirtschaftliche Situation eine Krise erreichte und Reformen vom Ausland erzwungen wurden. Die britische Krone hatte ihr "Kronjuwel" systematisch verhökert und das Land, das vor 500 Jahren die zweitgrößte Handelsnation der Welt gewesen war, zum Wasserträger der industriellen Revolution in Europa gemacht. 1947, dem Jahr der Unabhängigkeit, hatte Indien noch einen Anteil von 2 Prozent am Welthandel, der größte Teil in Form von Rohstoffexporten nach Grossbritannien und der Einfuhr von verarbeiteten Gütern.

Dass der Staat nicht einfach dem Markt den Platz räumen kann ist aber auch sozialpolitisch begründet. Indien bleibt das größte Armutsland der Welt und laut dem jüngsten Bericht der UN-Agrarorganisation FAO vom letzten November deren größte Hungernation. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung sind immer noch zu arm, um sich das lebensnotwendige Minimum an täglicher Nahrung zu leisten. Weitere fünfzig Prozent der Menschen Indiens leben, mit einem Einkommen zwischen ein bis zwei Dollar pro Tag, ohne soziale Sicherungsnetze mit Ausnahme der Familie. Erst vor einer Woche verabschiedete die Regierung ein Gesetzesprojekt, das sicherstellen soll, dass die 370 Millionen Beschäftigten im informellen Sektor - also all die Straßenhändler, Schuhputzer, Haushaltshilfen- eine Alters- und Invalidenrente erhalten können.

Die Ankündigung aus Delhi wurde in der Öffentlichkeit mit den Parlamentswahlen in Verbindung gebracht, die in diesem Jahr stattfinden. Die Regierung umwirbt damit die Bürger, die zwar kaum soziale Einflussmöglichkeiten haben, die aber mit ihrem Wahlzettel über Sein oder Nichtsein von Politikern entscheiden können. Es ist ein Zeichen, dass die Demokratie des Landes ein wichtiger Faktor der staatlichen Reformpolitik geworden ist. Bei kürzlichen Wahlen in drei Bundesländern war das Hauptthema nicht wie befürchtet die religiöse Polarisierung zwischen Hindus und Muslimen, sondern der Slogan "Bijli, Sadak, Pani" - Strom, Straßen und Wasser. Auf der anderen Seite bedauern viele Ökonomen, meist mit einem Seitenblick auf das viel forschere Vorgehen Chinas, dass der Reformprozess der langsamen demokratischen Konsensbildung unterworfen bleibt. Eine Vielzahl von Parteien und Lobbies stellt sicher, dass ihre Partikularinteressen berücksichtigt bleiben. Der sozial, geographisch und ideologisch hoch fragmentierte politische Prozess verhindert oft jahrelang ökonomisch sinnvolle Entscheide.

Dass Indiens Sozialindikatoren das Land trotz seines wirtschaftlichen Potentials immer noch im untersten Drittel des UNO-Index menschlicher Entwicklung ansiedeln, liegt aber nicht nur an der Langsamkeit demokratischer Prozesse. In seiner Reformpolitik hat der Staat bisher den Sektor der Landwirtschaft ausgespart. Er bleibt immer noch weitgehend dem staatlichen Dirigismus unterworfen - verständlicherweise. Denn Indien ist nicht nur das weltweit größte Armutsland. Ein Viertel aller Bauern der Welt sind Inder, und die meisten von ihnen sind arm. Dies beweist die Statistik: Zwei Drittel aller Beschäftigten sind heute noch in der Landwirtschaft tätig, doch dessen Beitrag zum Sozialprodukt ist inzwischen von 55 auf 25 Prozent gesunken. Die Produktivität der Dienstleistungen, über die Hälfte der gesamten Wirschaftsleistung ausmachen, ist dreißig Mal höher als jene eines Bauern. Dasselbe gilt bei einem Vergleich mit Bauern anderer Länder: Indien ist, flächenmäßig, der weltweit größte oder zweitgrößte Anbauer von Reis, Weizen, Tee Hülsenfrüchten, Ölsaaten, Baumwolle, und Jute. Doch in jedem dieser Produkte besetzt es die hinteren Ränge gemessen an der Gesamtproduktion oder dem Hektarertrag.

Auch hier war das Motiv staatlichen Interventionsimus ein nobles gewesen. Die koloniale Steuerpolitik hatte dem Land zahlreiche Hungersnöte beschert, und es war eines der obersten Ziele des unabhängigen Landes, dies nie mehr zuzulassen. Die "Grüne Revolution" war ein überaus erfolgreiches System staatlicher Anreize und Abnahmegarantien, welche das Land von Nahrungsmitteleinfuhren befreite und ihm inzwischen einen Vorratsberg von über sechzig Millionen Tonnen Getreide beschert hat. Das Resultat war aber eine finanzielle und bodenwirtschaftliche und soziale Aushöhlung, die je länger je untragbarer ist. Düngemittel- und Saatgut-Subventionen haben eine Reihe von Bundesstaaten an den Rand des Bankrotts geführt; die mit Chemie und Ueberwässerung versalzten und übersäuerten Böden geben sinkende Erträge; und die kapitalintensive Landwirtschaft hat eine Elite von Kulakenbauern geschaffen, mit einer immer größeren Menge von Kleinst- und landlosen Bauern, die zunehmend verarmen.

Der Auftritt Indiens auf der Welthandelskonferenz im September in Cancún war ein Signal an die Welt, dass es bereit ist, sich der größten Herausforderung seiner bisherigen Reformpolitik zu stellen. Indien stellte sich nämlich erstmals an die Seite einer Reihe von Agrarexportstaaten. Ein Gesetzesvorhaben soll die geltenden Einschränkungen bei Produktion und Handel von Agrarprodukten liberalisieren. Durch diese Einschränkungen entgeht den Bauern soviel Einkommen, dass dies bei weitem nicht durch die sieben Milliarden Dollar an Zuschüssen kompensiert werden kann, die der Staat Jahr für Jahr an die Landwirtschaft verteilt.

Die Reformschritte kommen keinen Augenblick zu früh. Die Beschäftigung in den 580.000 indischen Dörfern ist in den letzten Jahren gesunken. Bei einem Wirtschaftswachstum von über 5 Prozent, und einer jährlichen Zunahme der Bevölkerung im Job-Alter ist die Beschäftigung nur um ein Prozent gewachsen - im ländlichen Indien gar nur um 0,7 Prozent. In Indien erfüllt sich bereits der Albtraum der Globalisierungsbefürworter: "jobless growth".

Quelle: Der Beitrag erschien am 13. Januar 2004 in der "Tageszeitung" (taz).

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