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30. November 2002. Nachrichten: Politik & Recht - Indien Mühsamer Kampf um die Menschenrechte

In Rajasthan trafen sich Bürgerrechtler zu ihrer fünften Landeskonferenz

Bürgerinitiativen in Indien? Außer der Anti-Staudamm-Bewegung im Narmada-Tal, die vor allem durch die Schriftstellerin Arundhati Roy bekannt wurde, weiß man wenig darüber. Doch es gibt sie und vor allem in Rajasthan melden sie sich immer wieder zu Wort.

"Wir fordern unsere Rechte ein!" Stimmgewaltig und farbenfroh zieht der Demonstrationszug durch das Zentrum der 100.000 Einwohner zählenden Stadt Chittaurgarh im Süden Rajasthans. Einige hundert Menschen sind an diesem Morgen dem Aufruf der Volksunion für Bürgerrechte (PUCL) gefolgt. Und lautstark protestieren sie gegen soziale Ungerechtigkeiten, Hunger, Korruption und die hindunationalistische Gewalt im benachbarten Gujarat.

Der Marsch Ende November bildete den Auftakt für eine Reihe weiterer Veranstaltungen rund um die fünfte Landeskonferenz der rajasthanischen Sektion der PUCL. Die Geschichte der PUCL geht in die 70er Jahre zurück. 1975 hatte die damalige indische Premierministerin Indira Gandhi den Ausnahmezustand über das Land verhängt. In dieser Periode staatlicher Repression, in der Menschen- und Bürgerrechte systematisch ausgehöhlt wurden, riefen engagierte Intellektuelle die Bewegung für bürgerliche Freiheit und demokratische Rechte ins Leben - die Vorläuferin der heutigen PUCL.

Nachdem 1977 der Ausnahmezustand aufgehoben worden war und Indira Gandhis Kongress-Partei bei den Wahlen eine empfindliche Niederlage eingesteckt hatte, verlor die Bewegung allmählich an Kraft. Erst drei Jahre später, als Gandhi erneut an die Macht gelangt war, wurde die Bewegung reaktiviert und in People's Union for Civil Liberties (PUCL) umbenannt. Seit dieser Zeit setzt sich die Organisation für die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte sowie die Belange gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, wie Frauen, Kastenlose und religiöse Minderheiten, ein. Um unabhängig zu bleiben, akzeptiert PUCL keine Fördergelder vom Staat oder von anderen Institutionen. Die Arbeit wird ausschließlich durch die Mitglieder und private Spenden finanziert. Durch Unterorganisationen ist die Bewegung heute in nahezu allen indischen Unionsstaaten vertreten, wobei die rajasthanische Sektion zu den politisch schlagkräftigsten gehört. Vor allem die große Zahl der Anhänger, hervorragende Verbindungen zu den Medien und die Fähigkeit, hunderte Menschen für Veranstaltungen zu mobilisieren, macht PUCL zu einer gesellschaftlichen Kraft, die sich in Rajasthan mehr und mehr Gehör verschafft.

Im kleinen Stadion von Chittaurgarh endet die Demonstration. Unter einem riesigen Zelt aus bunten Tüchern versammeln sich die Teilnehmer, um die Reden der geladenen Prominenz - Gewerkschafter, ehemalige Parlamentsabgeordnete, Bürgerrechtler - zu verfolgen. Ein dominierendes Thema ist die verheerende Dürre, von der weite Teile Rajasthans betroffen sind. Viele der aus der Umgebung angereisten Bauern haben selbst unter den Folgen zu leiden und machen ihrem Ärger lautstark Luft. Trotz gut gefüllter staatlicher Lagerhäuser kommt es immer wieder zu massiven Versorgungsengpässen, was nicht zuletzt auf die korrupten Strukturen der lokalen Verwaltung zurückzuführen ist. Vor allem im Südosten des Unionsstaates ist die Lage dramatisch. Weitgehend unbemerkt sind allein im Distrikt Baran in den letzten Wochen 40 Menschen an den Folgen von Unterernährung gestorben.

Ein weiterer Schwerpunkt der Reden sind die anti-muslimischen Pogrome im benachbarten Gujarat. Eindrucksvoll schildert die Bürgerrechtlerin Aruna Roy ihre Arbeit in einer unabhängigen Kommission, die über Wochen Zeugen befragt und die Geschehnisse detailliert dokumentiert hat. Der 500 Seiten umfassende Bericht mit dem Titel "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" legt Ursachen, Verlauf und Konsequenzen der Ausschreitungen offen, denen im Frühjahr dieses Jahres ausschließlich Muslime zum Opfer fielen. "Was uns die Menschen erzählt haben, hat all meine Vorstellungen übertroffen", sagt Aruna Roy. Gujarat habe mit vorherigen Gewaltausbrüchen nichts gemeinsam, so Roy weiter. Denn die Landesregierung unter Führung der hindunationalistischen Indischen Volkspartei und ihres Chefministers Narendra Modi habe einen wesentlichen Anteil an der Eskalation der brutalen Gewalt. Mitte Dezember soll in Gujarat ein neues Staatsparlament gewählt werden. Und trotz der verheerenden Bilanz von mehr als 1.000 Toten setzen die Hindunationalisten im Wahlkampf auf eine gegen religiöse Minderheiten gerichtete Strategie.

Die Folgen sind noch nicht absehbar, aber es ist zu befürchten, dass sich eine erneute Eskalation auch auf andere Unionsstaaten auswirken kann. "Auch in Rajasthan versuchen hindunationalistische Kräfte seit Jahren Unruhe zu schüren", sagt der Journalist Neelabh Mishra. "Doch wo immer es zu einem Zwischenfall kam, waren wir an Ort und Stelle und haben mit den Menschen gesprochen." Und er ergänzt: "Während in Gujarat die gewalttätigen Hindunationalisten dominieren, haben sich in Rajasthan so etwas wie zivilgesellschaftliche Strukturen gebildet, die einen wichtigen Gegenpol darstellen." Die große Zahl der Unterstützer aus nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen sei auch ein Zeichen der Solidarität für die Arbeit der PUCL, meint Mishra. Kavita Srivastava, Generalsekretärin der PUCL Rajasthan, stimmt ihm zu: Die Konferenz habe gezeigt, dass die Leute ein Forum wie PUCL brauchen, um sich auszutauschen und Kräfte für kommende Aufgaben zu bündeln. "Unser Kampf für die Menschenrechte ist oft sehr mühsam, und Ereignisse wie in Gujarat lassen uns manchmal am Sinn unserer Arbeit zweifeln. Doch die regelmäßigen Treffen und der Zusammenhalt geben uns die Kraft, weiterzumachen."

Quelle: Der Artikel erschien am 5. Dezember 2002 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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