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30. Oktober 2002. Nachrichten: Politik & Recht - Südasien Regierungswechsel nach überraschenden Wahlresultat bei Landtagswahlen in Kashmir

Trotz schwerer Gewalttaten mit vielen hunderten Toten gab es eine relativ hohe Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen im indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir (J&K). Die Wähler fügten der regierenden National Conference (NC) eine empfindliche Niederlage zu Gunsten des oppositionellen Congress (I) und der People's Democratic Party (PDP) zu. Congress (I) und PDP stehen künftig einer neuen Landesregierung vor. Ihre Vertreter gelten als Verfechter einer moderaten autonomistischen Politik.

Das Resultat der Wahlen, bei denen 46 Prozent der über 5,6 Millionen Stimmberechtigten die 87 Abgeordnetenmandate bestimmten, war insbesondere durch den hohen Verlust für die NC sehr überraschend. Die National Conference mit ihren 28 Mandaten wurde zwar stärkste Fraktion im Landesparlament von J&K, doch büßte sie ihre bisherige Zweidrittel -Mehrheit ein. Nach über 50 Jahren ist die Partei damit zum ersten Mal bei Wahlen im Landesparlament in der Opposition. Ihr junger Führer Omar Abdullah, der die Partei erst vor einigen Monaten übernommen hat, hatte vor den Wahlen verkündet, er werde keinen Regierungsanspruch erheben, falls die Partei die absolute Mehrheit einbüße. Der Congress (I) wurde zur zweitstärksten Fraktion mit 20 Sitzen gewählt. Die erst vor drei Jahren gegründete Regionalpartei People's Democratic Party verfügt nun über 16 Mandate. Auch sezessionistische unabhängige Kandidaten gewannen einige Sitze. Der Dachverband von über 20 separatistischen Parteien, die All-Party Hurriyat Conference (APHC), hatte die Wahl boykottiert.

Die Führer von Congress (I) und PDP, Ghulam Nabi Azad und Mufti Muhammed Sayeed, betrachteten das Resultat als ein klares Wählermandat. Durch anfänglichen Streitigkeiten um die Ämter - insbesondere das des Chefministers - wurde am 17. Oktober der Unionsstaat vorübergehend unter direkte Kontrolle der Zentralregierung gestellt. Doch knapp zwei Wochen darauf einigten sich die Koalitionäre von Congress (I), PDP, Peoples Democratic Front und Panthers Party auf den PDP Vorsitzenden Mufti Sayeed als neuen Chefminister. Seit dem 2. November steht die Regierung, und der von New Delhi bestimmte Gouverneur Girish Chandra Saxena übergab die Macht an Mufti Sayeed. Congress (I) als auch PDP verfolgen innerhalb der Indischen Union eine größere, aber moderate Form der Autonomie für Kashmir.

Zwischen Wahlzwang und Boykott

Der Wahlkampf war thematisch durch Vorwürfe der Korruption und Misswirtschaft bestimmt. Dabei spielte Omars Vater Farooq Abdullah, der nur noch ein sehr schlechtes Image genießt, eine zentrale Rolle. Vermehrt kursierten Vorwürfen gegen den ehemaligen "Landesvater", von dem es hieß er habe sich nicht den Alltagsproblemen der Kashmiris gewidmet und sich stattdessen selbst bereichert. Es gelang der National Conference nicht, die weit verbreitete Missstimmung abzuwenden. Ihr großer Koalitionspartner in der Unionsregierung, die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) bekam ebenfalls einen politischen Denkzettel verpasst. Sie erhielt nur einen Sitz im Landesparlament und wurde damit praktisch aus der Politikszene von J&K hinausgefegt.

Auch die beiden letzten der vier Wahltermine am 1. und 8. Oktober 2002 waren geprägt von weiteren Gewalttaten islamistischer Untergrundorganisationen. Die beiden ersten Wahltermine im September waren bereits äußerst blutig. Indische Medien berichteten von einer Zunahme der Infiltration bewaffneter Gruppen, die vom pakistanischen Territorium den indisch kontrollierten Teil penetrierten. Zahlen von über 800 Toten seit Beginn des Wahlkampfes Ende August bis zum Abschluss der Wahlen Mitte Oktober offenbarten die Intensität der Gewalttaten. Die Jihadis, wie der militante islamistische Untergrund genannt wird, hatten versucht, die Wähler mit Gewalt vom Urnengang abzuhalten. In einigen Distrikten warnten sie durch Plakate die Menschen vor den Konsequenzen der Nichteinhaltung des von ihnen propagierten Wahlboykotts. Einer Studie des Institute of Social Science (ISS) zufolge war die obligatorische Einfärbung des Daumens mit Tinte nach der Stimmabgabe ein Grund für potenzielle Wähler, nicht zu den Urnen zu kommen. Die Furcht von den Jihadis erkannt zu werden war zu groß.

Das soll nicht bedeuten, dass es keine Kashmiris gab, die bewusst von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machten, ihre Stimmabgabe zu verweigerten. Daher ist die die Behauptung der Wahlkommission, dass die relativ hohe Wahlbeteiligung, zeigt, dass der Urnengang relativ fair und frei verlaufen sei, sicherlich differenzierter zu betrachten. Verschiedenen Berichten zufolge trieb die Armee Stimmbürger mit Stöcken in Wahllokale. Sogar die Lautsprecher einiger Moscheen wurden zweckentfremdet, indem sie für Wahlaufrufe missbraucht wurden. Die Zentralregierung wollte bei den in vier Phasen durchgeführten Wahlen beweisen, dass in Kaschmir trotz militärischem Belagerungszustand demokratische Wahlen möglich seien. Die hohe Wahlbeteiligung war ihr daher wichtiger als das Abschneiden einer bestimmten Partei.

Laut der ISS-Studie waren Wähler zwar tatsächlich in die Wahllokale getrieben worden, doch war es ihnen frei gestellt, einen Kandidaten zu bestimmen. Dennoch war die Angst vor Vergeltung der Militanten spürbar. New Delhi hatte daher 500.000 Soldaten und andere Sicherheitskräfte bereitgestellt und die Wahltermine durch zeitliche Abstände ausgedehnt. Die unabhängige Wahlkommission hatte bei der letzten Teilwahl vom 8. Oktober die Sonderpolizei in die Kasernen beordert, um die Vorwürfen von Wahlbeobachtern über erzwungene Stimmabgaben zu entkräften.

Einheitliche Interessen?

Trotz der relativ hohen Wahlbeteiligung, die in der mehrheitlich von Hindus bewohnten Jammu-Region höher lag als im muslimischen Kashmirtal, wirkten sich die Unterschiede dieses Mal nicht auf das Stimmverhalten aus.

Die sich zunehmend als "kolonialisiert" empfundene Region um Jammu - so verfügt z.B. Jammu nur über 37 Mandate im Landesparlament, während das Kashmirtal mit 46 Sitzen vertreten ist - hatte im Wahlkampf ganz eigene Themen. Eine mögliche staatliche Selbstständigkeit wurde heiß debattiert. Als weiterer Streitpunkt galt die zu Gunsten der Tal-Bewohner übermäßige Verteilung von Beamtenposten.

In Srinagar selbst blieb die Bevölkerung den Urnen überwiegend fern. Aber in den ländlichen Bezirken des Tals gab es eine höhere Wahlbeteiligung. Bei den Wahlen der letzten Jahre war es stets eine Stimmaufteilung zwischen (muslimischer) National Conference in Kashmir und hindunationalistischer BJP in Jammu.

Das Wahlergebnis offenbarte, dass Themen wie Arbeitslosigkeit, schlechte und gar fehlende Infrastruktur (etwa Strassen und Krankenhäuser), die anhaltende Militärpräsenz und eine fähigere Regierungspolitik (good governance) von größeren Interesse waren als jemals zuvor.

Fehlende Damenwahl

Von den 727 angetretenen Kandidaten waren nur 18 Frauen. Die seit 71 Jahren bestehende National Conference hat beispielsweise bisher immer noch kein Mandat für eine Frau reserviert. Dabei sind Frauen durch den anhaltenden Bürgerkrieg die Hauptleidtragenden und machen mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus.

Seitdem ein Lichtbildausweis nicht mehr Pflicht für Wählerinnen ist, kamen viele Frauen zur Stimmabgabe in Burqa. Die Anwesenheit von Frauen im Wahllokal sorgte der ISS-Studie zufolge dafür, dass mehr Wählerinnen ihre demokratischen Rechte wahrnahmen. In den ländlichen Gebieten, in denen weniger Frauen die Wahlen betreuten, gaben verhältnismäßig weniger Frauen ihre Stimme ab.

Demokratische Fortschritte?

Die überraschende Niederlage der Regierungspartei, aber auch die Möglichkeit für Wahlbeobachter aus dem In- und Ausland, sich vom demokratischen Ablauf der Wahlen zu überzeugen, stärkte die Position der Zentralregierung. Manipulationen wie in den Vorjahren schienen weitaus geringer gewesen zu sein. New Delhi behauptete, dass die Wahlen insgesamt fair und frei gewesen seien, was sicherlich mit einigen Abstrichen den Tatsachen entsprach. Doch ob die relativ hohe Wahlbeteiligung als Absage an die Separatisten und als Votum für das Verbleiben Kashmirs in der Indischen Union interpretiert werden kann, ist zweifelhaft. Schließlich haben auch unabhängige separatistische Kandidaten Mandate gewonnen - sie bevorzugen eine Unabhängigkeit von New Delhi und Islamabad.

Zukünftig werden Lippenbekenntnisse der Zentralregierung für eine größere Autonomie nicht mehr genügen. Nach dieser als erfolgreich zu bezeichnenden Verwirklichung der Regionalwahl muss die Regierung Vajpayee nun ihr Versprechen einhalten und mit den politischen Gruppierungen in Kashmir den Dialog suchen. Hardliner der Hindunationalisten und Innenminister L. K. Advani hat Bereitschaft zu Gesprächen angekündigt und dabei auch die APHC und die Jihadis zumindest nicht ausgeschlossen.

Der Zeitpunkt ist günstig - das Wahlresultat hat bei vielen Kashmiris Hoffnungen geweckt, dass eine politische Wende durch den Stimmzettel doch möglich ist. Selbst der Hurriyat-Führer Maulvi Muhammad Ansari begrüßte den Willen Mufti Mohammads, den Konflikt politisch lösen zu wollen. Damit hat Delhi gegenüber Pakistan einen Zwischensieg errungen. Das Nachbarland hatte die Wahlen bereits im Voraus als Farce verurteilt. Doch die über 800 Todesopfer der Wahlen werden sicherlich nicht vergessen werden.

Quellen

  • Diverse Meldungen der BBC und der Tageszeitung The Hindu
  • Bernhard Imhasly: Mobilisierung der Wähler in Kaschmir, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 2.10.2002.
  • Bernhard Imhasly: Überraschendes Wahlresultat in Kaschmir, in: NZZ, 11.10. 2002.
  • Institute of Social Sciences: Assembly Elections 2002: Under the Shadow of Fear, in: The Economic and Political Weekly, 26.10.2002.

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