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08. August 2002. Nachrichten: Wirtschaft & Soziales - Indien Indien auf Platz Zwei der HIV-Rangliste

Nur in Südafrika gibt es mehr HIV-Infektionen als in Indien, aber Peter Piot, Vorsitzender der UNAIDS, ist sich sicher, dass Indien innerhalb kürzester Zeit die weltweite Spitzenposition einnehmen wird.

Gemessen an einer Bevölkerung von nahezu einer Milliarde Menschen ist die Rate von 0,5 Prozent zwar noch niedrig, aber die Zahl der Neuinfektionen wächst stetig. Betroffen sind vor allem die ärmsten Bevölkerungsschichten. Aufklärungs- und Hilfsprogramme sind häufig nur mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattet und stoßen auf regen Widerstand: AIDS gilt in Indien generell als gesellschaftliches Stigma.

Rapides Ansteigen der Infektionen in Indien

Seit 1986 der erste Fall von HIV auftrat, hat sich innerhalb von 15 Jahren die Zahl der Infizierten auf fast fünf Millionen erhöht. Inzwischen sind alle Regionen betroffen. Als Schwerpunkte gelten die Unionsstaaten Gujarat, Maharashtra, Goa, Karnataka, Andhra Pradesh, Tamil Nadu im Westen und Süden, Nagaland und Manipur im Osten. In den Großstädten Mumbai, Hyderabad und Banglore haben klinische Untersuchungen ergeben, dass über zwei Prozent der Frauen infiziert waren.

HIV wird in Indien hauptsächlich durch heterosexuellen Kontakt verbreitet. Insbesondere Fernfahrer und Wanderarbeiter haben dafür gesorgt, dass sich Aids auch in den ländlichen Regionen verbreitet, wo die medizinische Versorgung noch ineffizienter ist als in den Städten. Im nordöstlichen Manipur soll laut Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch der Ansteckungsweg über infizierte Spritzen von Drogenkonsumenten häufig sein.

Unzureichende Prävention und Hilfe

Der indische Staat hat mit finanzieller Hilfe der Weltbank ein nationales AIDS-Programm gestartet. Ob die 190 Mio. € - theoretisch könnte man damit immerhin jedem Inder ein Kondom schenken - Wirkung zeigen, ist fraglich: Sexualität ist immer noch ein Tabuthema.

Etliche Hilfsorganisationen werden immer wieder in ihrer Arbeit auch von staatlichen Stellen massiv behindert. Im Juli 2002 berichtete Human Rights Watch von Polizei-Übergriffen auf Mitarbeiter der Hilfsorganisation SANGRAM, die monatlich über 350.000 Kondome an Prostituierte und andere gefährdete Gruppen verteilt. In Bangalore wurden Mitarbeiter von der Polizei geschlagen, Mitarbeiterinnen wurde sogar Chilipulver in Augen und Vagina gerieben.

Aufgrund der unzureichenden medizinische Versorgung erliegen viele der Infizierten ziemlich schnell ihrer Immunschwäche, beispielsweise in Kombination mit den weitverbreiteten Tuberkulose, der sogenannten "Geißel der Ärmsten". Nur wenige Menschen, bei denen AIDS ausgebrochen ist, sind in medizinischer Behandlung. Die monatlichen Kosten einer Kombinationstherapie von 250 € sind für die meisten Inder unerschwinglich. Wenn sich jemand behandeln läßt, dann sind das zu 85 Prozent Männer. Obwohl ihre Frauen meist auch infiziert sind, haben sie in der patriarchalischen Gesellschaft Vorrang.

Paradoxerweise produzieren die indischen Pharmakonzerne Cipla und Ranbaxy in großem Stil preisgünstigere AIDS-Therapiemittel, die von der WHO allerdings hauptsächlich im südlichen Afrika und Brasilien eingesetzt werden.

Homosexualität als noch größeres Tabu

Die Aufklärungsarbeit unter Homosexuellen gestaltet sich noch schwieriger, denn der Artikel 377 des indischen Strafgesetzbuches definiert den "gegen die Natur (gerichteten) körperlichen Verkehr" als Straftat. Im Sommer 2001 waren vier in der AIDS-Aufklärung tätige Aktivisten verhaftet worden. Sie arbeiteten in den Nichtregierungsorganisationen NAZ und BHAROSA in Lucknow, Hauptstadt von Uttar Pradesh. Nach Angaben der Polizei diente die Aktion der "Bewahrung der indischen Werte". Die örtlichen Gerichte lehnten das Kautionsersuch ab und folgten dabei der Argumentation der Polizei, wonach die Aktivität beider Organisationen "ein Fluch sei, der die gesamte Gesellschaft verschmutzt".

Artikel 377 ist übrigens eine Hinterlassenschaft britischer Kolonialgesetzgebung. Der erste "offizielle" HIV-Infizierte Indiens, ein junger Homosexueller aus Goa, der sich angeblich bei einem US-amerikanischen Steward angesteckt hatte, wurde 1986 mit Begründung auf diesen Artikel inhaftiert.

Besserung nicht in Sicht

Im Jahr 2000 starben in Indien an den Folgen von HIV/AIDS rund 350.000 Menschen. Schätzungen der WHO sagen bis 2005 ein Ansteigen auf mindestens 500.000 Tote jährlich voraus. Aufgrund der ungenügenden medizinischen Versorgung und der Tabuisierung der Sexualaufklärung entwickelt sich HIV in Indien zu einem ausgewachsenen Problem. Dessen Folgen könnten sich – siehe südliches Afrika - zukünftig in ganz Südasien zerstörerisch entfalten.

Quellen

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