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20. Mai 2010. Aus dem Netzwerk: SÜDASIEN 2/2010

Thema: "60 Jahre indische Verfassung. Perspektiven der Minderheiten"

Das aktuelle Heft (2/2010) der vom Südasienbüro e.V. (Bonn) herausgegebenen Zeitschrift SÜDASIEN zum Thema "60 Jahre indische Verfassung. Perspektiven der Minderheiten" erschien am 18.05.2010.

Liebe Leserinnen und Leser,

Die Verfassung des unabhängigen Indiens vom 26. Januar 1950 erhebt hohe Ansprüche - nicht umsonst sind viele Inder stolz auf sie und feiern den Verfassungstag alljährlich gerne mit. Auf der grossen Parade in Delhi präsentieren sich alle Bundesstaaten aufwändig, die Armee zeigt ihre neuesten Waffen inklusive die neuesten Raketentypen - auch die, die mit Atomwaffen bestückt werden. Die feierliche Übergabe des Verfassungstextes durch den Vorsitzenden der Verfassungskommission, B.R. Ambedkar, an Premierminister Jawaharlal Nehru und Präsident Rajendra Prasad (Titelseite) ist denn auch ein Tag des Stolzes für die indischen Dalits - denn es war schliesslich der historische Dalit-Führer Ambedkar, der als Vorsitzender der Verfassungskommission für diesen Text verantwortlich war - wenn dieser auch in den entscheidenden Punkten kaum vom Verfassungstext des Kolonialstaates aus den 1930er Jahren abwich.

Cover Südasien 2/2010
Titelbild des aktuellen SÜDASIEN-Heftes (2/2010) zum Thema "60 Jahre indische Verfassung. Perspektiven der Minderheiten". Foto: Südasienbüro e.V. (Bonn)

Die indische Verfassung gehört - rechtsdogmatisch betrachtet - auch im internationalen Vergleich zu den anspruchsvolleren Verfassungstexten. Sie schreibt der indischen Union einen strengen Säkularismus vor und versucht zugleich einen beeindruckenden Spagat zwischen unterschiedlichen normativen Traditionen: Dabei verknüpft sie traditionelle Rechtsformen der Hindus, Moslems und Stammesgesellschaften und regionales Gewohnheitsrecht mit britischem Recht und den amerikanischen und französischen Traditionen der verfassungsgebenden Gewalt, Volkssouveränität und Selbstbestimmung. Gewiss hat es Versuche gegeben, das Handeln der Exekutive oder Entscheidungen des indischen Parlaments den Vorrang vor Verfassung und Gerichten einzuräumen. Insbesondere die 1984 von ihren Sikh-Leibwächtern erschossene langjährige Premierministerin Indira Gandhi versuchte, mittels Verfassungsänderung und Notstandsgesetzen die indische Gesellschaft zu formen. Doch damit ist sie gescheitert. Schwieriger ist es, den Geist der Verfassung bei separatistischen Konflikten lebendig zu halten, wie die Artikel zum Nordosten Indiens und zum Armed Forces Special Powers Act von 1958 im vorliegenden Heft zeigen.

Ein zentraler Gedanke in der Verfassung ist das Leitbild eines zentral kontrollierten Föderalismus, das dem Geist des britischen Government of India Act von 1935 folgt. Die hohe Gestaltungskompetenz der indischen Unionsregierung verleitete immer wieder dazu, die verfassungsrechtlichen Schranken politischen Handelns zu überschreiten. Bezeichnenderweise wurde die Notstandsregierung Indira Gandhis 1975-1977 nicht durch Kontrollinstanzen der Verfassung, sondern durch Wählerentscheidung beendet. Wie insgesamt die Wähler sich zum überraschendsten Subjekt im Sinne der Verfassung, das heißt als Staatsbürger, entwickelt haben. Die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Diskriminierung und Verletzung von Grundrechten, die in diesem Schwerpunktheft zur Verfassungswirklichkeit Stellung beziehen, belegen die Substanz des indischen Verfassungsgeistes beim Sourverän - beim Volk.

Der Grundrechtsteil der indischen Verfassung enthält die Rechtsgleichheit der Person (Art. 14) und einige ausdrückliche Diskriminierungsverbote z.B. auf der Grundlage von Religion, Geschlecht und Kaste (Art. 15, 16 und 17). Angesichts der historisch gewachsenen, hierarchisch strukturierten Gesellschaft gab die Verfassung den Regierungen einen geradezu revolutionären Gestaltungsauftrag auf den Weg. Wir haben mit diesem Schwerpunkt versucht, einzelne Ergebnisse des Regierungshandelns in den vergangenen 60 Jahren entsprechend auszuwerten - im Ergebnis wenig schmeichelhaft für die Regierungen.

Außer den Ritualen äußerlicher Genugtuung über eine 60-jährige, als tragfähig erwiesene Verfassung will bei den Herrschenden wie beim Volk keine rechte Freude über das Erreichte aufkommen. Gelegentlich drängt sich sogar der Eindruck auf, dass sich der Mainstream der indischen Gesellschaft bei der Bewertung von politischem, wirtschaftlichem und sozialem Erfolg eher am totalitären aber scheinbar erfolgreichen Erfolgsmodell Volksrepublik China orientiert als an der demokratischen Politik der Ausbalancierung der Interessen in Indien. Die Texte des Schwerpunkts legen allerdings nahe: Diejenigen, die die Verfassungsvorgaben für einen demokratisch verfassten Staat einfordern und sich selbst dafür einsetzen, sind die Akteure, auf die ein besseres, gerechteres und auch friedlicheres Indien bauen kann.

Theo Rathgeber
Heinz Werner Wessler

 

Inhaltsverzeichnis Südasien 2/2010

Editorial

Tendenzen der Gegenwartsliteratur
Geetanjali Shree - Die Bürde
Udaya Narayana Singh - Gedichte

Indien
Thomas Bärthlein - Im Überblick
Joseph Marianus Kujur - Die indische Verfassung und das Leben der Adivasis
Theo Rathgeber - Vertreibung - endemischer Bestandteil des indischen Staates
Interview mit Irene Hujon
Rainer Hörig - Indien im Strudel der Globalisierung
Walter Hahn - Wahlrechtsreform - die CERI-Kampagne
C.J. George - Kinderrechte in der Republik Indien
N. Urikhimbam/T. Rathgeber - Verfassung, Notstand und Zivilgesellschaft im Nordosten
Eberhard von der Heyde - Christen pochen auf verfassungsmäßige Rechte

Sri Lanka
Jochen Vogel - Im Überblick
John P. Neelsen - Von der Universalität der Menschenrechte
Vinod Krishnan T.Y. - Sri Lanka will Ikone im Asien-Tourismus werden

Bangladesh
Patrizia Heidegger - Im Überblick
Patrizia Heidegger - Islam und Verfassung in Bangladesch

Afghanistan
Karl-Heinz Golzio - Afghanistan/Pakistan: Zeugnisse des Buddhismus

Pakistan
Thomas Bärthlein - Im Überblick

Südasien
D. Dayanandan/C. Kamp - Indien: Solarstrom für ländliche Entwicklung
Annette Heitmann - Serie Religionen: Buddhismus
Interview mit Walter Keller

Rezensionen

Gelbe Seiten
Adivasi-Rundbrief


(Das Einzelheft kostet 6,50 Euro, weitere Informationen auf der Homepage des Südasienbüro e.V.)

 

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+49-176-26100979
E-Mail:
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