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Es ist daher begrüßenswert, dass der 2003 von Christian Weiß gegründete Draupadi Verlag sich zwei Schwerpunkte gesetzt hat: zeitgenössische indische Literatur und Sachbücher über Indien. Der Verlagsname "Draupadi" nimmt dabei auf die gleichnamige Frauenfigur in der indischen Dichtung Mahabharata Bezug, die sich gegen Ungerechtigkeit und Willkür zur Wehr setzt.
Mit dem Gedichtband Ich glaube nicht an Grenzen von K. Satchidanandan liegt eine Auswahl von 72 Gedichten aus dem Malayalam vor, der Muttersprache von etwa 35 Millionen Menschen aus Kerala, dem Bundesstaat an der Südwestküste Indiens. Malayalam ist mit Tamil, Kannada und Telugu eine Hauptsprache der dravidischen Sprachfamilie. Die deutsche Übersetzung wird von einem Vorwort des Autors, einer Einführung der Herausgeberin und Übersetzerin Annakutty K. Findeis, einem Gespräch zwischen Autor und Übersetzerin, einem Quellennachweis mit Glossar und einer kurzen Einführung in die Geschichte der Literatursprache Malayalam begleitet.
Obwohl Satchidanandan zu den bekannteren Repräsentanten der modernen indischen Dichtung zählt und sein Werk in mehrere indische und nicht-indische Sprachen übersetzt wurde, gibt es in deutscher Sprache meines Wissens bisher keinen eigenständigen Lyrikband. Das hat vor allem kommerzielle Gründe. Zum einen werden Übersetzungen ins Deutsche staatlich nicht gefördert (anders bei den Staaten mit "kleinen Sprachen" wie Schweden, Estland, Niederlande), zum anderen verkaufen sich Unterhaltungsromane, meist von Englisch schreibenden Autoren, wie z.B. Chitra Banerjee Divakaruni oder Rohinton Mistry zur Zeit relativ gut.
Satchidanandan, in seiner Heimat und international ausgezeichnet, ist nicht nur der bekannteste und wohl auch bedeutendste Dichter der Regionalsprache Malayalam, sondern gilt auch als Erneuerer der Poesie seiner Muttersprache, deren traditionelle Normen er überwinden half. Geboren 1946 in Pulloot bei Kodungallore in Kerala, bekennt er, seine Gedichte stets in seiner Muttersprache zu schreiben, während er für Essays und Sachbücher sowohl Malayalam, als auch das Englische verwendet. Er sagt über seine Wurzeln: "Ich begann, meine Dichtung ernst zu nehmen, in den sechziger Jahren, als die Malayalam-Dichtung eine radikale Transformation durchlief - in Themen, Stimmung und Form. Die neuen Dichter, müde vom Überdruss der Romantiker und der Oberflächlichkeit der Progressiven, bemühten sich, ein neues poetisches Idiom zu schaffen, [...um] die Konflikte und die Komplexität des zeitgenössischen Lebens in seiner Totalität [einzufangen]" (S. 9).
Nach dem Studium der Anglistik promovierte Satchitanandan über post-strukturalistische Theorie und war 25 Jahre als Dozent am Christ College der Universität Calicut (heute Kozhikode) tätig. Er ist nicht nur mit seinen eigenen Werken hervorgetreten (etwa 20 Gedichtbände, die u.a. ins Englische, Französische und Italienische übersetzt wurden), sondern ist selbst als Übersetzer von lateinamerikanischer, indischer und afrikanischer Literatur sowie als Literaturtheoretiker tätig.
Die Auswahl der Gedichte und Übersetzung vom Malayalam (ohne Umweg über das Englische) in die deutsche Sprache übernahm Frau Prof. em. Annakutty Valiamangalam K. Findeis, eine Germanistin, die außer durch Publikationen im Bereich deutscher Literatur, Ästhetik und interkultureller Germanistik auch mit eigenen Gedichten und Übersetzungen hervorgetreten ist. Die Übersetzungen sind kommentiert, und machen auch Leser, die sich noch nicht mit indischer Literatur beschäftigt haben, neugierig auf den Kulturraum Südasien. Durch das beigefügte Gespräch zwischen Satchidanandan und Findeis ist durchweg ein Austausch zwischen Dichter, Übersetzer und Leser angestrebt, und autobiographische Bezüge werden angedeutet. Allerdings bekennen sich Dichter und Übersetzerin zu den Grenzen der Hermeneutik des Übersetzens: "Gedichtübersetzung" (S.25) "ist ein Umzug aus einem Nest in das andere" und ein "Stottern" (S.33): "Stottern ist keine Behinderung. Es ist eine Art zu sprechen. [...] Mit jedem Stottern bringen wir ein Opfer dem Gott der Bedeutungen. Wenn ein ganzes Volk stottert, wird Stottern seine Muttersprache: so wie es jetzt ist mit uns".
Themen dieses Gedichtbandes sind zum einen sprachliche, religiöse und nationale Identitäten der Individuums, die Wurzeln des Dichtens (Genesis, S. 43), der emanzipatorische Anspruch des Dichter und die Stellungnahme zur Tagespolitik wie z.B. "Gandhi und das Gedicht" (S. 20), "Stacheln sind meine Sprache" (S. 35). Auch reflektiert der weit gereiste Dichter die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten der von ihm besuchten Staaten, z.B. Russland (Besuch im Tolstoi Museum 1988, "Tolstoi ist nicht da", S.51) oder China ("Bücher", S.75, "Beim Erblicken der chinesischen Schriftzeichen", S. 74 und "Auf der großen Mauer" S. 76). Satchidanandan, der auch mehrfach zu Dichterlesungen Deutschland besucht hat, glaubt nicht mit Adorno, dass nach Auschwitz keine Dichtung mehr möglich sei. Er stellt sich den Themen Faschismus, Totalitarismus und Vergangenheitsbewältigung: "Mauer" (S. 59) und "Frankfurt" (a.M., S.58) enthalten nicht nur Beobachtungen des Reisenden in Deutschland; mit wenigen prägnanten Bildern führt Satchidanandan Mahnmale der Sprachlosen vor Augen, oder schafft, mit Brecht ausgedrückt, "Gedichte über schlechte Zeiten". Goethes Geschöpf Mephisto ist nun "eine Maschine, die alle Wünsche erfüllt"; "auf einen Knopf drücken" bedeutet "gleich trifft Helena ein für Faust", und "Schillers hochgepriesene Freude" ist zu einer Gummipuppe Beate Uhses geworden. Was ist Deutschland heute, das Land der Dichter und Denker, das die Erfinder der Atombombe hervorbrachte? Warum haben alle Uhren der Welt "Hitlers Arme" (S.58)?
Zeit und Vergänglichkeit ist Topos (in "Uhren", S. 103): "Mein Haus hat fünf Zimmer. Jedes Zimmer hat je eine Uhr. Jede stammt aus einem anderen Land und zeigt die dortige Zeit an".
Ebenso das Thema des Wagnisses zu einem lebendigen, spirituellen Leben, was eine Gratwanderung zwischen Affirmation und Verweigerung zu sein scheint. In "Bulle Shah wirkt Wunder" (S. 82) lässt Satchidanandan den Panjabi Sufi-Dichter (1680-1757) wiederauferstehen. Und in "Lal Ded spricht gegen Grenzen" (S.77-79, entnommen einem längeren Gedicht-Zyklus) führt er einen Dialog mit der kaschmirischen Mystikerin Lalla (14. Jh.), eine sowohl von Hindus aus auch von Muslimen verehrte Heilige.
Satchidanandan nimmt als Herausgeber, Kulturpolitiker, Autor theoretischer Schriften, Veranstalter von Literatur- und Kulturseminaren und als Übersetzer afrikanischer, lateinamerikanischer, asiatischer und europäischer Autoren in vielen seiner Gedichte kritisch zum Kulturbetrieb Stellung.
"Mit denen, die an Grenzen glauben, reden nicht Wasserquellen und Sterne. Ich glaube nicht an Grenzen. Wie können Sandkörner wissen, in welchem Land sie liegen?"
Teilweise erinnern Satchidanandans dialektische Zwei- oder Mehrzeiler an die Ghazels der Sufi-Dichtung (Sher genannt, bekannt z.B. durch den Urdu-Dichter Mirza Rafi Sauda). Dennoch verwendet der Dichter Stile aus verschiedenen westlichen und orientalischen Traditionen, je nachdem ob der Besorgnis über politische und ethische Fragen Ausdruck gegeben wird, den kleinen Dingen des Alltags ein kosmischer, universaler Sinn eingehaucht wird, oder in pointierter Dialektik auf komplexe Zusammenhänge verwiesen wird. In den stilistischen Feinheiten zeigt sich wohl, dass er auch in selbst in seinen ganz persönlichen Aussagen immer wieder Interpret der verschiedensten religiösen Bewegungen und Strömungen der indischen Literaturen ist.
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