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17. April 2012. Rezensionen: Indien - Kunst & Kultur Salma

Die Stunde nach Mitternacht

Ein opulenter Roman, der den Leser in den Mikrokosmos der islamischen Bevölkerung einer Kleinstadt in Südindien führt. Im Mittelpunkt stehen einige junge Frauen, deren Leben unter anderen Umständen glücklich verlaufen könnte, sind sie doch intelligent, lernbegierig und gut aussehend. Aber die Verhältnisse, die sind nicht so...

Die schöne Firdaus zum Beispiel wird als Teenager aus finanziellen Gründen mit einem viel älteren, ihr völlig unbekannten Mann verheiratet, den sie so abstoßend findet, dass sie ihm schon in der Hochzeitsnacht erklärt: "Ich werde nicht mit dir leben. Rühr mich nicht an!" Die Ehe wird geschieden, Firdaus kehrt zu ihrer Mutter zurück. Aber ihr Ruf ist ruiniert. Sie kann sich in der Dorfgemeinschaft nicht mehr blicken lassen, steht praktisch unter Hausarrest und hat keine Chancen auf eine neue Ehe. Als schließlich herauskommt, dass sie sich auf eine heimliche Liebesbeziehung mit ihrem Nachbarn eingelassen hat - zu aller Schande auch noch einem Ungläubigen, einem Hindu - zwingt ihre Mutter sie, ein tödliche Dosis Gift zu trinken.

Auch Wahida, die einige Jahre ein recht freies Leben in der Großstadt hatte führen dürfen, wo sie bei ihrem Onkel lebte und die Schule besuchte, wird, kaum ist sie fünfzehn, mit einem viel älteren in Singapur lebenden Cousin verheiratet. Obwohl Wahidas Eltern ihre Tochter lieben und die Mutter Bedenken gegen den Bräutigam erhebt, geben sie dem Drängen von dessen Mutter nach, die mit der Tradition der Heirat unter nahen Verwandten und materiellen Opportunitätsgründen argumentiert. Auch diese Ehe entpuppt sich bald als Katastrophe.

Wahidas Cousine Rabia darf, kaum hat sie ihre erste Periode, nicht länger zur Schule gehen. Sie bekommt zu spüren, dass die Tage ihrer unbeschwerten Kindheit zu Ende sind. Jetzt gilt sie als Frau und weiß, dass es ihr bald gehen kann wie Firdaus und Wahida.

Der Roman ist mit so vielen weiteren Figuren bevölkert, dass man froh ist, gelegentlich im Anhang nachschlagen zu können, wo das wesentliche Personal mit seinen nachbarlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen aufgelistet ist. Die wichtigsten Männer sind gutsituierte Ladenbesitzer, angesehene Mitglieder der Gemeinde und Mäzene der Moschee. Andere Männer leben und arbeiten inzwischen in Singapur, Sri Lanka oder den Golfstaaten. Sie kommen nur zu kurzen Besuchen in die Heimat bzw. um hier zu heiraten. Zu ihnen gehören auch Strenggläubige, die den 'laxen' indischen Muslimen zeigen wollen, wie der Islam in rein islamischen Ländern praktiziert wird.

Die Autorin (geboren 1968) ist selbst unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen. Sie durfte nur wenige Jahre die Schule besuchen und wurde früh in eine Ehe gedrängt. Von ihrem Mann und dessen Familie hatte sie viele Einschränkungen und Demütigungen zu ertragen. Dennoch schaffte sie es, heimlich Gedichte zu schreiben und sie unter dem Pseudonym Salma in einer Tamil-Literaturzeitschrift zu veröffentlichen. Die ersten literarischen Erfolge stärkten ihr Selbstbewusstsein, so dass sie erfolgreich für den Gemeinderat ihres Heimatortes kandidierte und später parteipolitische Ämter übernahm, in denen sie u.a. bessere Bildungschancen für Mädchen zu ihrer Sache macht.

Die Stunde nach Mitternacht kann als Psychogramm und Soziogramm der Muslime in Südindien gelesen werden. Der Roman zeichnet Konfliktlinien und Rollenverhältnisse präzise nach; das alltägliche Leben, die Feste, Freundschaften und Rivalitäten innerhalb der Muslim-Gemeinde werden anschaulich und anrührend beschrieben. Allerdings braucht der Leser einen langen Atem. Die Handlung entfaltet sich langsam, in epischer Breite. Erst ab der Mitte des Buches gewinnen die Ereignisse eine Dynamik, die sich zum Schluss hin immer mehr steigert.

Bei aller berechtigten und nachvollziehbaren Sozialkritik scheint der Blick auf die Gesellschaft ein wenig zu düster. Keiner der Hauptpersonen gelingt der Ausbruch aus den Zwängen ihrer sozialen Umgebung. Selbst ein gemischt religiöses Paar, das den Ausbruch wagt und sich in der Anonymität der Großstadt niederlässt, wird durch einen Verkehrsunfall auseinandergerissen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer hätte dem Roman gewiss nicht geschadet. Immerhin ist Salma selbst ja Emanzipation und Befreiung gelungen.

Das Buch erschien 2004 auf Tamil. Die deutsche Ausgabe ist eine flüssige, gut lesbare Sekundärübersetzung aus dem Englischen.

Salma: Die Stunde nach Mitternacht. Roman, Draupadi Verlag, Heidelberg 2011, 359 Seiten, 19,80 Euro.

 

Die Rezension ist zuerst in der Zeitschrift SÜDASIEN (Nr. 1/2012) erschienen.

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