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Amitav Ghosh ist wieder einmal auf Lese-Weltreise. Nach Australien, Neuseeland und seinem Heimatland am Ganges kam der indische Erfolgsautor dieser Tage nach Deutschland. In seinem Gepäck sein neuestes Buch "Hunger der Gezeiten", das nicht wie sein letzter Bestseller "Der Glaspalast" ganz Südasien zum Schauplatz hat, sondern nur einen winzigen Teil davon – die Sundarbans, jene Inselwelt im Delta von Ganges und Brahmaputra, in der die Grenzen von Land und Wasser verschwimmen.
Die Bewohner nennen den Archipel bhatir desh, Gezeitenland. Bei Flut steht er halb unter Wasser, erst wenn es wieder fällt, gebiert er den Mangrovenwald auf neu aufgeworfenen Schelfen. "Die Inseln sind die Wiedergutmachung der Flüsse, sie sind die Opfer, mit denen sie dem Land zurückgeben, was sie ihm genommen haben, auch wenn sie sich die Herrschaft über das Geschenk für immer vorbehalten", schildert der 1956 in Kolkata (Kalkutta) geborene Schriftsteller die Inselwelt in seinem neuen Buch.
"Es ist eine unvergleichliche Welt, in der viele Zivilisationen zusammentreffen, die bengalische Kultur und das Hindu-Indien mit der arabisch-muslimischen Welt, aber im Laufe der Jahrhunderte haben hier auch Arakaner, Khmer, Javaner, Malayen, Holländer, Portugiesen und Briten ihre Spuren hinterlassen", skizziert Ghosh die vielfältigen Einflüsse auf das Gezeitenland, das ihm von Kindheit an sehr vertraut ist. Viele Male hat er seinen Onkel, der im Jahr der indischen Unabhängigkeit 1947 als Manager der sozialen Stiftung eines britischen Philanthropen in die Sundarbans gezogen war, besucht und gespannt den Erzählungen der Erwachsenen gelauscht.
"Nach dem 11. September, den Kriegen in Afghanistan und Irak hatte ich das Bedürfnis, über einen Landstrich zu schreiben, der so weit abgelegen ist von der heute so erbarmungslos globalisierten Welt", motiviert Ghosh seinen Roman, der von einer Dreiecksgeschichte zwischen der jungen US- amerikanischen Delfinforscherin Piya mit indischen Wurzeln, dem Fischer Fokir und dem Übersetzer Kanai aus Delhi getragen wird. Das Zusammentreffen der extrem unterschiedlichen Lebenswelten zeichnet Ghosh außerordentlich subtil und nicht ohne dramatische äußere Höhepunkte. Einen spannungsreichen Kontrast bilden die Tagebuchnotizen von Kanais Onkel Nirmal über ein Massaker auf einer der Sundarban-Inseln.
In Nirmal begegnet dem Leser ein linker Aktivist aus Kalkutta, der mit seiner Frau in die Sundarbans floh und hier als Lehrer dahinlebte, ohne die revolutionären Träume seiner Jugend zu vergessen. Nirmal, erläutert Ghosh, ist "ein in der bengalischen Kultur sehr verbreiteter Typus: Kommunisten, Sozialisten und andere Linke mit sozialen Visionen, unter denen ich viele Freunde habe." Doch der Fall der Berliner Mauer habe vielen linken Bengalen "eine absolute Lebenskrise, eine Krise der Identität" beschert.
Nirmal verkörpert zugleich einen der vielen bengalischen Intellektuellen, die der Welt-Poesie weit aufgeschlossen sind. Ghosh hält nicht damit hinter dem Berge, dass mit den kunstvoll projizierten Zitaten aus Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" eigene Affinitäten in den Roman eingeflossen sind: "Ich liebe die prachtvolle Poesie Rilkes, sie spricht direkt zu mir mit ihrer tiefen Einsicht in menschliches Wesen und Natur." Überhaupt habe Rilke, was man in Deutschland leider nicht wisse, nach wie vor "einen sehr großen Einfluss auf die bengalische Dichtung – mehr als jeder andere moderne westliche Autor."
Von seiner Frau als unverbesserlicher revolutionärer Träumer gescholten, will Nirmal am Ende eines unspektakulären Lehrer-Lebens den bengalischen Flüchtlingen auf der Nachbarinsel Morichjhapi beistehen, die sich mit großem Elan eine neue selbstbestimmte Existenz aufbauen und nun – im Namen eines Projektes zum Schutz der Tiger – gewaltsam vertrieben werden sollten.
"Morichjhapi – diese Geschichte habe ich nicht erfunden", klärt Ghosh auf. Die Flüchtlinge aus den Sundarbans von Bangladesch hatten lange Jahre in Camps im indischen Binnenland unter schwierigen Bedingungen leben müssen. Als 1977 in Westbengalens Hauptstadt Kolkata eine KP-Regierung an die Macht kam, verdankte sie das zu einem nicht geringen Teil den Flüchtlingen und anderen Deklassierten. Unmittelbar nach der Wahl, so Ghosh, sei einer der neuen Minister in die Camps gekommen und habe die Migranten nach Westbengalen eingeladen. Zehntausende machten sich auf den Weg und viele von ihnen siedelten sich auf der bis dahin unbewohnten Insel Morichjhapi an. Doch das endete 1979 in einem furchtbaren Desaster. Bei ihrer gewaltsamen Vertreibung wurden hunderte Neusiedler getötet, hunderte Frauen vergewaltigt. "Doch bis heute wurde nie darüber geschrieben – weil es Dalits waren, Kastenlose, die ärmsten Menschen der Welt, hilflos, und man hatte mehr übrig für einen Tiger als für zehntausend menschliche Wesen", so das bittere Resümee des Schriftstellers. "Gewiss, dies geschah unter einer kommunistischen Regierung", räumt er ein. "Aber 1979 war eine Zeit, in der noch vielerorts stalinistische Methoden angewendet wurden – denken Sie nur an Pol Pot in Kambodscha oder an den Tiananmen-Platz in Peking."
Das Gezeitenland war immer auch eine Projektionsfläche für Träume anderer Art, schildert Ghosh in seinem Buch. So wollte der britische Vizekönig Lord Canning in dem Archipel einen Großhafen bauen. Und jetzt plant das indische Konglomerat Sahara India Parivar einen riesigen Tourismus-Komplex just in dem Gebiet, das in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen werden soll. Am 10. Oktober berichtete die Zeitung "The Telegraph" aus Kolkata unter der Schlagzeile: "Übernahme des Gezeitenlandes": 1979 wurde den Sundarbans und seinen Bewohnern Gewalt angetan – und heute wieder, wenn auch auf andere Art. Das gigantische Tourismus-Projekt soll Hotelkomplexe auf vier Inseln mit Einkaufszentren und Casinos sowie drei schwimmende Luxushotels umfassen. Täglich würden 1500 Touristen mit Katamaran-Schiffen in die Inselwelt verfrachtet werden – "an exklusive jungfräuliche Strände", wie es in der Werbung heißt. Und wieder ist die Linksregierung in Kolkata mit von der Partie – ihre Tourismus-Behörde ging ein Joint venture mit der Sahara Group ein.
Amitav Ghosh ist bei seinen Recherchen für "Hunger der Gezeiten" auf das spektakuläre Projekt gestoßen. "Ich war der erste, der es in diesem Sommer in die Öffentlichkeit brachte – bis dahin gab es keinerlei Debatte darüber", berichtet er. Der riesige Tourismusbetrieb würde das empfindlichen Gleichgewicht der Sundarbans zerstören, das bereits durch Besiedlung (etwa vier Millionen Menschen leben auf den Inseln) und Industrialisierung beeinträchtigt sei. Die seltenen, vom Aussterben bedrohten Tierarten wie die Bengaltiger oder die Irrawadday-Delfine, die seine Buchheldin Piya erforscht, seien ebenso gefährdet wie die Erwerbsmöglichkeiten der lokalen Fischer – Argumente, die nicht nur bei Umweltschützern zündeten.
Ghosh gehört ähnlich wie Arundhati Roy ("Der Gott der kleinen Dinge") zu jener neuen Generation selbstbewusster indischer Autoren, die offen und unverblümt auch politisch Stellung beziehen. So griff er im Sommer vorigen Jahres vehement in die indische Irak-Debatte ein. Damals übten die USA starken Druck auf die konservative Regierung in Delhi aus, Truppen nach Mesopotamien zu schicken. Während bekannte Sicherheitsexperten für einen Irakeinsatz als notwendigen Schritt auf dem Wege zu einer Global-Player-Rolle Indiens an der Seite Washingtons warben, entgegnete Ghosh, mit einer nachträglichen Legitimierung des USA-Völkerrechtsbruches habe Indien "viel zu verlieren und nichts zu gewinnen".
Ghosh erinnerte dabei auch an dunkle Kapitel der kolonialen Geschichte Indiens. Während der Raj, der britischen Herrschaft in Südasien, seien indische Soldaten häufig für die Unterdrückung antikolonialer Rebellionen in Ostafrika, Burma, China, Malaya und – in Mesopotamien eingesetzt worden. Und wenn indische Truppen nun in Irak das Feuer auf irakische Zivilisten eröffnen müssten, spann Ghosh den Faden weiter, hätte jeder Inder in der arabischen Welt die Rückwirkungen zu spüren. Allein in den Golfstaaten leben vier Millionen.
"Dieser Artikel hatte in Delhi eine gewisse Wirkung", erinnert sich der Schriftsteller nicht ungern. Das konservative Kabinett musste die Irak-Pläne schließlich aufgeben. Und die neue Kongress-Regierung sei glücklicherweise "weit mehr gegen den Irak-Krieg als die vorangegangene".
Nun hofft Amitav Ghosh, dass sein Engagement auch im Falle des gigantischen Tourismus-Projekts in den Sundarbans von Erfolg gekrönt werde. Dafür spricht, dass sich unterdessen eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung gegen die Zerstörung des Gezeitenlandes gebildet hat. In Kolkata entstand das Forum Besorgte Bürger für die Sundarbans, dem sich bereits 19 Organisationen anschlossen. Die Regierungen in Kolkata und Delhi werden mit E-Mails überschüttet, auch von ausländischen Umweltfreunden. Ökoaktivisten haben an Plätzen, wo schon Hotel-Claims abgesteckt wurden, Vermessungspflöcke herausgerissen.
Das alles blieb nicht ohne Wirkung. "Dieser Tage hat die Linksregierung von Westbengalen das Projekt vorerst gestoppt und eine neue Evaluierung gestartet", informiert Ghosh über den neusten Stand der Dinge. Im Übrigen, so erzählt er lächelnd, sei das Wort Zyklon von den Briten geprägt worden, als die Anlagen von Lord Cannings gewaltigem Hafenprojekt von einer riesigen Sturmflut hinweggespült wurden. Das könnte ja auch dem Sahara-Projekt, wenn es je Wirklichkeit würde, geschehen...
Quelle: Amitav Ghosh, Hunger der Gezeiten, Karl Blessing Verlag, München 2004, 460 Seiten, geb., 22 Euro.
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