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17. November 2006. Schwerpunkte: Islam in Südasien

In Südasien leben über 437 Millionen Muslime, weit mehr also als in den arabischen und nordafrikanischen Staaten, die häufig als "Kernregionen" der "islamischen Welt" betrachtet werden. Anders als etwa auf den Malediven oder in Pakistan und Bangladesch, stellen die Muslime in Indien und Sri Lanka Bevölkerungsminderheiten dar. Auch wenn diese Angaben in Prozenten ausgedrückt klein wirken (in Indien 13 und in Sri Lanka 8 Prozent der Gesamtbevölkerung), umfassen sie im Falle Indiens dennoch über 130 Millionen Menschen. Der größte Staat des Subkontinents gehört somit weltweit zu den Ländern mit den meisten Anhängern der verschiedenen Glaubensformen des Islams.

Liebe Leserinnen und Leser,

die Beziehungen zwischen dem indischen Subkontinent und den islamisch geprägten Regionen in Asien wie auch im arabischen Raum sind seit Jahrhunderten durch die vielfältigsten Bewegungen von Menschen, Ideen und Gütern gekennzeichnet. Ein reger Austausch fand und findet nicht nur auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet statt, sondern auch in den Bereichen der Politik und Religion. Südasien besitzt durch sein reiches historisches und kulturelles Erbe einen ganz eigenen und eigenständigen Stellenwert in der "Geschichte des Islams", der jedoch gerade im deutschsprachigen Raum viel zu selten wahrgenommen wird. Nach wie vor richtet sich hier die wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit in erster Linie auf den arabischen Raum, auch wenn es längst kein Geheimnis mehr ist, dass die meisten Muslime der Welt in Süd- und Südostasien leben. Muslimische Lebenswelten weisen heute weltweit eine so große Vielfalt auf, dass man nicht von einer "islamischen Welt" beziehungsweise von einem monolithischen Bild der islamischen Religion (und Geschichte) ausgehen kann.

Wann und über welche Wege der Islam nach Südasien gelangte, ist das Thema des ersten einführenden Beitrags zu diesem Themenschwerpunkt von Christoph S. Sprung ( Zur Expansion des Islam in Südasien ). Darin befasst sich der Autor mit der Frage, wie sich der Islam fernab seiner arabischen Ursprungsregion als Religion behaupten konnte und wie sich das Zusammenleben zwischen Muslimen und Anhängern anderer Religionsgemeinschaften auf dem indischen Subkontinent vor dem Eintreffen der europäischen Kolonialmächte gestaltete.

Tiefgreifende Prozesse des sozialen Wandels kennzeichnen auch die alte, mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte Indiens, was sich nicht zuletzt auf die Ausprägung und Veränderung religiöser Identitäten auswirkte. Völlig neuartigen Bedingungen wurde das interreligiöse Zusammenleben jedoch infolge der Erfassung der Bevölkerung nach Religionszugehörigkeiten durch die britische Kolonialverwaltung seit 1871 unterworfen. Die in Zahlen fassbare Größe einer Religionsgemeinschaft wurde vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zunehmend bedeutsam für die politische Verhandlungsmacht gegenüber der Kolonialregierung betrachtet. Hieraus, wie zum Teil auch aus dem durch die Präsenz christlicher Organisationen empfundenen Reformierungsdruck, erklärt sich wiederum das Erstarken hinduistischer und islamischer Missionierungsbewegungen in diesem Zeitraum. Am Beispiel des eigens für Missionierungszwecke neu geprägten Shuddhi-Rituals untersucht Thomas Krüppner die religiösen Mobilisierungsversuche hinduistischer Reformbewegungen vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Veränderungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ( Konversion und Rekonversion im Hinduismus ).

Wie aktuell und umstritten gerade das Thema der Missionierung und Konversion von Hindus und Muslimen in Indien bleibt, verdeutlicht der Beitrag von Nadja-Christina Schneider ( "Konversion" zum Islam vs. "Neubestätigung" des hinduistischen Glaubens ). Die Autorin zeigt darin, wie aus dem Übertritt von rund 1000 Dalits in einem südindischen Dorf Anfang der 1980er Jahre ein mediales Schlüsselereignis für eine erneute "islamische Bedrohung" konstruiert wurde.

Weit über die Grenzen Indiens und Südasiens hinaus erfährt wiederum die islamische Missionierungsbewegung der Tablighi Jama'at seit einigen Jahren eine wachsende Aufmerksamkeit. Zugleich manifestiert sich in dem inzwischen global ausgedehnten Netzwerk der Organisation der Einfluss des südasiatischen Islams auf die Entwicklung von Glaubenspraktiken und den Wandel muslimischer Identitäten in der Moderne. Dietrich Reetz beleuchtet in seinem Artikel die Organisation und Arbeitsweise der Tablighi Jama'at in der täglichen Praxis ( Keeping Busy On the Path of Allah ).

Die Frage, ob der spezifisch indische Säkularismus ein dauerhafter Garant für die friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften sein und im günstigsten Fall sogar zur Stärkung der Demokratie in Indien beitragen kann, ist nach der starken Polarisierung und zahlreichen kommunalistischen Ausschreitungen in den beiden vergangenen Jahrzehnten heute genauso bedeutsam wie am Vorabend der Unabhängigkeit. Verschiedene Aspekte beider Perspektiven, sowohl der historischen als auch der zukunftsbezogenen, auf die säkulare Ordnung als Grundlage für den Fortbestand der religiösen Pluralität in Indien werden in drei Beiträgen diskutiert. Zunächst geht Maria Framke in ihrem Artikel der Frage nach, wie Jawaharlal Nehru im Kontext der Unabhängigkeitsbewegung generell die Rolle der Religion in seiner Gesellschaft sowie der Politik seines Landes bewertete. Ausgehend von seinen Schriften legt die Autorin Nehrus Argumentation für einen säkularen Staat im nachkolonialen Indien dar, in dem Interessenverbindungen grundsätzlich nicht nach religiösen Kriterien gebildet werden sollten. Aus dieser Überzeugung konnte Nehru auch kein Verständnis für die Vorstellung eines separaten Staates Pakistan für die indischen Muslime aufbringen ( Why did Nehru find difficulty in fitting Jinnah and the idea of Pakistan into his own conception of a 'modern India'? ).

Mit Nehrus "säkularem Vermächtnis", das er dem unabhängigen Indien nach seinem Tod im Jahr 1964 hinterließ, befasst sich wiederum Gerhard Klas in seiner Rezension der 2006 auf Deutsch veröffentlichten Nehru-Biografie "Die Erfindung Indiens - Das Leben des Pandit Nehru" von Shashi Tharoor. Darin setzt sich der Autor zugleich mit Tharoors wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen in Bezug auf sein Herkunftsland Indien auseinander ( Religiöser Pluralismus in Indien und das säkulare Vermächtnis Nehrus ). Wie die Perspektiven der maßgeblich durch Nehru geprägten säkularen Ordnung in Indien zu bewerten sind, ob sie künftig zur Herstellung eines tragfähigen Konsenses in der indischen Gesellschaft ausreichen wird und inwieweit sie für das Fortbestehen der staatlichen Einheit wie auch für den religiösen Pluralismus bürgen kann, erörtert schließlich Michael Dusche in seinem Artikel ( Staatliche Einheit und religiöse Vielfalt in Indien ).

Mit der Frage, wie es angesichts der schwierigen Entstehungsbedingungen und wechselvollen Geschichte des Staates um die Möglichkeiten und Voraussetzungen zu einer nachhaltigen Konsensbildung und Stärkung der Demokratie in Pakistan bestellt ist, befasst sich Bettina Robotka in ihrem Beitrag ( The Dilemma of Democracy in Pakistan ).

Ein weiterer inhaltlicher Fokus dieses Themenschwerpunkts richtet sich auf den Bereich "Bildung und Reform", der ebenfalls drei Artikel umfasst, die sowohl historische als auch aktuelle Perspektiven auf entsprechende Debatten in Südasien eröffnen. Wie bereits angedeutet wurde, lösten die komplexen Bedingungen der kolonialen Situation sowohl im Hinduismus als auch im Islam vielfältige Debatten und Reformbestrebungen aus. Um eine "Renaissance" des Islams, in der die Religion zugleich stärker auf die Erfordernisse der Moderne ausgerichtet werden sollte, insbesondere im Bereich der Bildung, bemühte sich beispielsweise Sir Sayyid Ahmad Khan . Maria-Sophia Moritz stellt seine Gedanken und Ansätze zu einer neuen Koraninterpretation in ihrem Beitrag vor und geht im Anschluss daran der Frage nach, wie viel Einfluss Khans Reformbemühungen tatsächlich auf innermuslimische Bildungsdebatten im 19. und 20. Jahrhundert in Indien hatten.

Ende 1937 beauftragte der Indische Nationalkongress (INC) ein Komitee aus Bildungsexperten unter dem Vorsitz von Zakir Husain, dem späteren Präsidenten Indiens, einen Entwurf für eine "nationale Grundschulbildung" auszuarbeiten, der später auch als Wardha Scheme bekannt wurde. Auf dessen Grundlage verabschiedete der INC 1938 eine Resolution zum Aufbau einer Grundschulbildung für Jungen und Mädchen aller Religionsgemeinschaften. Unter der Ägide des damaligen Bildungsministers, Pandit Ravi Shankar Shukla (INC), wurde im selben Jahr in den Central Provinces und Berar (entspricht Teilen der heutigen Bundesstaaten Madhya Pradesh, Chhattisgarh und Maharashtra) das Vidya Mandir Scheme eingeführt. Dieses Bildungsprogramm stieß jedoch auf einen unerwartet großen Widerstand seitens muslimischer Organisationen und Parteien und trug maßgeblich zur kommunitären Mobilisierung und Polarisierung zwischen Hindus und Muslimen in den Jahren vor der Teilung des Subkontinents bei. Die Hintergründe für diese Entwicklung legt Joachim Oesterheld in seinem Artikel dar ( Muslim Response to the Educational Policy of the Central Provinces and Berar Government (1937 - 1939) ).

Beispielhaft für muslimische Reformdenker in der Gegenwart stellt Fatma Sagir schließlich in einem Porträt Asghar Ali Engineer vor, der sich zum einen für eine neue Herangehensweise an den Koran und Reformierung des Islams einsetzt, zum anderen aber auch seit Jahren aktiv für die Aussöhnung zwischen Hindus und Muslimen eintritt ( Lektionen in freiem Denken ).

Spätestens seit der "islamischen Revolution" in Iran (1979) zirkulieren weltweit zunehmend selektive und stereotype Wahrnehmungen der Muslime und des Islams als einer angeblich "inhärent gewalttätigen" beziehungsweise "Gewalt fördernden" Religion. Global verstärkt wurde dieser Prozess in jüngster Vergangenheit noch einmal ganz wesentlich durch den "Krieg gegen den Terror" infolge der Anschläge vom 11. September 2001 und nachfolgender Bombenattentate. Dieses medial globalisierte oder global medialisierte Islambild dominiert auch in Indien (sowie in der Perzeption Indiens durch das Ausland) seit Anfang der 1980er Jahre zunehmend die Wahrnehmung der Muslime, worin eindeutig andere Bezugsquellen als die der "realen", dort lebenden Muslime erkennbar werden. Einen Überblick über die tatsächliche Diversität muslimischer Gemeinschaften und Glaubensformen in dem größten Staat Südasiens bietet zunächst der Artikel von Christoph S. Sprung ( Aspekte der Heterogenität des Islam in Indien ). Er entkräftet damit zugleich die Vorstellung einer homogenen und in sich geschlossenen Gemeinschaft.

Drei weitere Beiträge gehen wiederum auf Aspekte der medialen und literarischen Repräsentation ein, durch die die Wahrnehmung der Muslime und des Islams so maßgeblich geprägt wird. Ausgehend von zwei Werken, in denen V.S. Naipaul die Impressionen seiner Reisen durch islamisch geprägte Länder literarisch verarbeitet hat, Among the Believers: An Islamic Journey (1981) und Beyond Belief: Islamic Excursions Among the Converted Peoples (1996), analysiert Frauke Matthes das Islambild des Autors. Besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf die Frage, welche Vorstellungen eines "authentischen Islams" Naipaul seinen Beschreibungen zu Grunde legt und wie er sich selbst als Schriftsteller zum Gegenstand seiner Betrachtungen in Beziehung setzt ( Inauthentic Islam? ).

Welche Merkmale sich in der Darstellung männlicher muslimischer Identitäten im kommerziellen Hindi-Kino, besser bekannt als Bollywood, in den letzten zehn Jahren (1996-2006) als charakteristisch feststellen lassen, legt Azad Essa in seinem Beitrag dar. Dabei geht es ihm nicht nur um die Feststellung stereotyper Sehweisen, sondern auch um die Frage, ob die indischen Muslime in Bollywood-Filmen grundsätzlich als Bürger und Teil der indischen Gesellschaft dargestellt werden beziehungsweise, ob es erste Anzeichen dafür gibt, dass dies künftig besser gelingen kann ( Perennial 'Us' and 'Them' ).

Wie die bis heute andauernde Kontroverse über das islamische Personenstandsrecht als Teil der seit Jahrzehnten virulenten Zivilrechtsdebatte in der englischsprachigen indischen Presse dargestellt und nachweislich über diese mediale Repräsentation beeinflusst wird, beleuchtet Nadja-Christina Schneider in ihrem Artikel ( Die Debatte über das islamische Personenstandsrecht in Indien ).

Aspekte des islamischen Rechts behandelt schließlich auch Constanze Weigl in ihrem Beitrag. Sie untersucht darin die Frage, wie die Islamic Fiqh Academy in Indien sich mit der Problematik des therapeutischen und reproduktiven Klonens auseinandersetzt und inwieweit die daraus folgenden Beschlüsse eine eigenständige indisch-muslimische Position darstellen oder in enger Ab- und Übereinstimmung mit internationalen islamischen Rechtsinstitutionen getroffen wurden ( Die Islamic Fiqh Academy Indien und ihre Rechtsentscheidungen zum Klonen ).

Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen im Namen der gesamten suedasien.info-Redaktion,

Maria Framke, Nadja-Christina Schneider und Christoph S. Sprung

Berlin, November 2006

In Zusammenarbeit mit dem Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlag (BER) e.V., gefördert aus Mitteln des BMZ.

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