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17. Februar 2011. Analysen: Politik & Recht - Indien Indischer Menschenrechtler Binayak Sen zu lebenslanger Haft verurteilt

Raipur, Indien: Der 24. Dezember 2010, ein Tag an dem sich Deutschland über weiße Weihnachten freute, könnte nach Ansicht von indischen Menschenrechtsaktivisten als einer der schwärzesten Tage in die Geschichte der "größten Demokratie der Welt" eingehen. An diesem Tag wurde der indische Gesundheitsexperte und Menschenrechtsaktivist Dr. Binayak Sen zusammen mit dem vermeintlichen Politbüro-Mitglied der verbotenen Partei CPI (Maoist) Narayan Sanyal, und dem Geschäftsmann Pijush Guha von einem Gericht in Raipur (Chattisgarh) zu lebenslanger Haft verurteilt.

Das Amtsgericht unter Vorsitz von Richter B.P. Sharma sah es als bewiesen an, dass der 58-jährige Arzt zwischen Mai und Juni 2007 als Kurier für die maoistische Guerilla fungiert habe, in dem er bei diversen Gefängnisbesuchen des seit 2005 inhaftierten Narayan Sanyal  Briefe entgegengenommen und an Guha weitergeleitet haben soll. Guha soll diese dann an die Führung der CPI (Maoist) übergeben haben. Nach Überzeugung des Gerichts erfüllen damit alle drei Angeklagten den Tatbestand der "Aufwiegelung" (engl. sedition)  nach Sektion 124A des indischen Strafgesetzbuches. "Die Angeklagten sind schuldig, indem sie Hass und Respektlosigkeit verbreiteten und gegen die gesetzlich legitimierte Regierung gehetzt haben", heißt es in Punkt 115 der Urteilsschrift. 1

Während Narayan Sanyal bereits seit 2005 im Gefängnis saß, wurden Binayak Sen und Pijush Guha im Mai 2007 verhaftet. Während Sen nach einer massiven Kampagne indischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen Anfang 2010 auf Kaution frei kam, blieb Guha die ganze Zeit in Untersuchungshaft.

Sektion 124A wurde im Jahr 1860 von der britischen Kolonialmacht in das indische Strafgesetzbuch integriert, um der aufkommenden indischen Unabhängigkeitsbewegung mit aller Härte entgegen treten zu können. Nach der Unabhängigkeit wurde der Paragraf trotz des kolonialen Ursprungs übernommen. Das Gesetz, unter dem kürzlich auch Ermittlungen gegen die renommierte Schriftstellerin Arundhati Roy eingeleitet wurden, ist unter Rechtsexperten höchst umstritten und gilt unter Menschenrechtlern als eine völlig obsolete, drakonische Maßnahme zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. 1962 schränkte der Supreme Court die Anwendung des Paragrafen aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken stark ein.

"Beweise mehr als fragwürdig"

Beobachter des Prozesses haben auf eine Vielzahl von Fehlern in der Beweisführung sowie auf  die Verletzung gängiger Rechtspraktiken während der Verhandlung gegen die drei Inder hingewiesen.

Laut Presseberichten sind die Beweise der Anklage mehr als fragwürdig. Das Hauptbeweisstück, ein angeblich bei der Durchsuchung von Sens Wohnung gefundener Brief, ist von niemandem  unterschrieben und taucht entgegen gängiger Polizeivorgehensweise nicht in der Liste der konfiszierten Gegenstände auf.

Außerdem interpretierte das Gericht Binayak Sens Telefonkontakt zu Narayan Sanyals Schwägerin als Beweis, dass Sen "verschwörerische Kontakte" zu den Sanyals unterhalte. Die Verteidigung hatte dagegen argumentiert, dass alle 33 Besuche Sens im Gefängnis als PUCL-Repräsentant im vollen Wissen und Einverständnis der lokalen Polizeibehörden statt fanden.

Sen hat während des Prozesses wiederholt darauf hingewiesen, dass die Polizei gedroht habe, ihn mittels falscher Beweismittel hinter Gitter zu bringen, wenn er seine staatskritischen Aktivitäten nicht einstelle.

Auch im Fall des Mitangeklagten Pijush Guha  wurden Ungereimtheiten ignoriert. So behauptete die Polizei, dass Guha am 6. Mai 2007 außerhalb des Bahnhofs in Raipur verhaftet wurde und maoistische Propaganda sowie drei von Sen übermittelte Sanyal-Briefe bei ihm gefunden wurden. 2 Eine indische Tageszeitung berichtete aber, dass Guha bereits am 1. Mai in seinem Hotelzimmer von Beamten entführt wurde und sechs Tage lang mit verbundenen Augen auf einer Polizeiwache lag. 3 Nachdem die Verteidigung auf Guhas Version bestand, gestand die Polizei ein, dass sie wohl einen "Tippfehler" beim Verhaftungsdatum gemacht habe. Das Gericht sah es als nicht notwendig an, diese Ungereimtheit weiter zu überprüfen.

Neben einer Zeugenaussage stützt sich die Anklage bei der Beweisführung für die angebliche Verbindung zwischen Sanyal, Sen und Guha hauptsächlich auf die beschlagnahmten Sanyal-Briefe. Während laut indischen Presseberichten die Briefe tatsächlich von Sanyal stammen, behauptet dieser, dass er in Untersuchungshaft dazu gezwungen wurde, diese Briefe zu schreiben.

Kritiker der zunehmenden Gewalt von Staat und Guerilla

Sen lebte und arbeitete seit über 20 Jahren in der Dandakaranya Region in Zentralindien, einem der Hauptschauplätze des Konfliktes zwischen maoistischen Rebellen und indischem Paramilitär und Polizei. Das Gebiet hat eine lange Geschichte von indigenen Widerstandskämpfen gegen die britische Kolonialherrschaft und später gegen die indische Zentralregierung und verschiedene Bergbaukonzerne.

Nachdem der Bundesstaat Chhattisgarh im Jahr 2000 unabhängig wurde, arbeitete Sen, der in Indien liebevoll als "Barfußdoktor" bezeichnet wird, zunächst für verschiedene staatliche Gesundheitsprogramme, die die Situation der zu 32 % aus Adivasis bestehenden Bevölkerung Chhattisgarhs verbessern sollten.

Die Situation in der Region eskalierte, als der indische Staat den zunehmenden maoistischen Angriffen mit der Unterstützung einer "counter-insurgency"-Einheit zur Bekämpfung der Rebellen namens "Salwa Judum" antwortete. Während der indische Premierminister Manmohan Singh die Maoisten wiederholt als "die größte Bedrohung der inneren Sicherheit" bezeichnete, sehen Sympathisanten die Angriffe der Maoisten als legitime Antwort auf die zunehmenden Rohstofferschließungsverträge zwischen der Landesregierung und den Bergbaukonzernen, die die äußerst fragile Existenzgrundlage der Adivasis zerstören.

Seit 2005 geriet die lokale Bevölkerung zunehmend in eine Zwickmühle zwischen Staats- und Guerilla-Terror. Binayak Sen - der durch seine Arbeit im Konfliktgebiet direkten Einblick in die Geschehnisse der letzten Jahre hatte – trat zunehmend als einer der härtesten Kritiker der Verbrechen Salwa Judums und der indischen Paramilitärs hervor.

"Vendetta des Staates gegen seinen härtesten Kritiker"

Viele Beobachter des Prozesses sehen den harten Kurs der indischen Gerichte daher als Versuch des indischen Staates, sich eines seiner härtesten Kritiker zu entledigen.

Die indische Menschenrechtsorganisation People's Union for Civil Liberties (PUCL), deren stellvertretender Vorsitzende Sen ist, bezeichnete das Urteil als "Vendetta des Staates gegen Binayak Sen", weil dieser die Menschenrechtsverletzungen durch die indische Polizei und Paramilitärs im Kampf gegen die maoistische Guerilla aufgedeckt und an die Öffentlichkeit gebracht hat.

Professor Ilina Sen, Binayaks Frau, ist überzeugt, dass es sich bei dem Urteil um eine politische Entscheidung handelt: "Es [das Urteil] kam erwartet, weil sich der Bundesstaat Chhattisgarh vor unsere Augen in einen paranoiden Staat verwandelt hat. [...]. Der gesamte Prozess gegen Binayak wurde losgetreten, weil er einer der wenigen Personen war, der sich gegen die Menschenrechtsverletzungen  des Staates aussprach", so Ilinia Sen in einem Interview mit dem Magazin Frontline. 4 Ilina Sen, gegen die am 27.01.2011 Ermittlungen wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen das Ausländergesetz eingeleitet wurden, äußerte sich außerdem besorgt über die Sicherheit ihrer Familie in Indien. "Nach dem Urteil werden sie mich ins Visier nehmen. Ich bin wirklich sehr besorgt um meine zwei Töchter", sagte Sen in einer Stellungnahme direkt nach der Urteilsverkündigung.

Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International verurteilte das Urteil aufgrund der zahlreichen Ungereimtheiten in der Beweisführung: "Dr. Sen, der von uns als politischer Gefangener betrachtet wird, wurde auf einer vagen Gesetzesgrundlage verurteilt, die in keiner Weise internationalen Standards für eine Strafverfolgung entsprechen", sagte Sam Zarifi, zuständig für die Asien-Pazifikregion bei Amnesty. 5

Während sich nach Angaben von Frontline einige führende Politiker für eine Neuauflage des Prozesses aussprachen, verweigerte der indische Justizminister, M. Veerappa Moily, einen Kommentar zu dem Urteil. "Alles was ich zu diesem Zeitpunkt sagen kann, ist, dass wir die Rechtssprechung ihren Weg gehen lassen müssen. Wir sollten Vertrauen in unser Rechtssystem haben", teilte der Minister in einem Interview mit dem Magazin mit. 6

Kürzlich meldete sich auch Amartya Sen, einer der bekanntesten indischen Ökonomen und Philosophen, zu Wort. Während der Veröffentlichung eines Buches der Schriftstellerin Minnie Vaid über Binayak Sens Leben bezeichnete er das Urteil als "ungerecht", und stellte verwies darauf, dass dieses Urteil tiefer liegende Fragen über das Funktionieren des indischen Rechtssystems aufwirft. 7

Empörung und Verurteilung des Urteils auch in Deutschland

Auch jenseits der indischen Grenzen sorgt das harte Urteil für Empörung und Unverständnis. Während bis dato keine offizielle Stellungnahme der deutschen Bundesregierung zur Verhaftung Sens vorliegt, hat die Europäische Union den indischen Behörden gegenüber ihre "Besorgnis über die Art und Weise der Festnahme von Dr. Sen" ausgedrückt. 8 Die SPD-Bundestagsfraktion forderte die [indischen] staatlichen Behörden in einem Kommentar für diesen Artikel dazu auf, das politisch motivierte Urteil aufzuheben und Binayak Sen sofort und bedingungslos zu entlassen, da seine Verurteilung zu lebenslanger Haft empörend sei und allen  rechtsstaatlichen Kriterien widerspreche. Volker Beck, der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag bezeichnete das Urteil als politisch motiviert: "Es dient dazu, Herrn Sen  für sein mutiges Eintreten für die Rechte der Adivasi und Leiharbeiter zu bestrafen."

Die EU hat mittlerweile eine Delegation von Prozessbeobachtern aus Belgien, Frankreich, Ungarn, Schweden, Großbritannien und Deutschland nach Raipur geschickt, wo am 24. Januar die Berufungsverhandlungen begonnen haben. Während die Beobachtermission von den zuständigen Gerichten genehmigt wurde, bezeichnete der Landesvorsitzende der Bharatiya Janata Party (BJP), Ram Sevak Paikra, die europäische Präsenz als "unangemessene Einmischung in die [indische] Justiz". 9 Eine Gruppe der RSS-nahen Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad (ABVP) empfing die Delegation auf dem Flughafen mit schwarzen Fahnen als Zeichen ihres Protestes. 10

 

 

Fußnoten

[ 1 ] Eine englische Übersetzung des Urteils ist einsehbar auf http://kafila.org/2010/12/31/full-text-the-binayak-sen-judgement-english-translation/
[ 2 ] Siehe Angklageschrift: http://kafila.org/2010/12/31/full-text-the-binayak-sen-judgement-english-translation/
[ 3 ] Sethi, Ahman (2010): "The Police fabricated evidence in Sen case: evidence" , in: The Hindu, 14 Dec. 2010
[ 4 ] Frontline Magazine, Vol. Jan 28, 2011. Das Interview ist einsehbar unter: http://www.frontlineonnet.com/fl2802/stories/20110128280200600.htm
[ 5 ] Pressemiteilung Amnesty International vom 25. Dezember 2010: http://www.amnesty.org/en/news-and-updates/indian-doctor-binayak-sens-conviction-and-life-sentence-mock-justice-2010-12-25
[ 6 ] Das Interview ist einsehbar unter: http://www.frontlineonnet.com/fl2802/stories/20110128280201000.htm
[ 7 ] http://www.hindu.com/2011/01/09/stories/2011010956181300.htm
[ 8 ] http://ec.europa.eu/delegations/india/press_corner/all_news/news/2011/20110121_en.htm
[ 9 ] http://www.indianexpress.com/news/hc-allows-eu-team-to-attend-binayak-sen-case-proceedings/741682/
[ 10 ] Ein kurzes Video zu den Protesten findest sich hier: http://ibnlive.in.com/news/binayak-case-protests-black-flags-greet-eu-team/141341-3.html

 

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