Inhalt

18. August 2014. Analysen: Kunst & Kultur - Indien Indischer Film jenseits von Glamour und Stereotypen

Das 11. Indische Filmfestival in Stuttgart, 17.-20. Juli 2014

Im Laufe einer Dekade hat sich das Indische Filmfestival in Stuttgart einen festen Platz in der Welt der indischen Filmfestivals in Europa und im jährlichen Kalender Indien-Begeisterter gesichert. Das Festival, das bis einschließlich 2011 unter dem Titel "Bollywood and Beyond" lief, konnte auch in diesem Jahr wieder mit einem abwechslungsreichen Filmprogramm überzeugen. Das Rahmenprogramm reichte von den sogenannten "Tea Talks", u.a. zur Parlamentswahl 2014 in Indien oder dem boomenden Online-Heiratsmarkt, über Tanzworkshops bis hin zu kleinen Musik- und Tanzvorführungen sowie dem Shah Rukh Khan Wunschfilm.

Wie auch im letzten Jahr fanden alle Vorstellungen zentral im Metropol Kino in Stuttgarts Innenstadt statt. Indisch-tropische Temperaturen von weit über 30 Grad konnten Neugierige und Filmfans nicht davon abhalten, sich in die indische Filmwelt entführen zu lassen. Die Spielfilme am Samstagabend waren trotz der großen Kinosäle teilweise sogar ausverkauft.

Das Filmprogramm zeugte von einer sorgfältigen Auswahl sowie einem Bewusstsein für die große sprachliche und kulturelle Diversität Indiens. Den neueren Entwicklungen in Indien hin zu mehr sozial-kritischen Filmen und dem zunehmend präsenteren regionalen Kino wurde Rechnung getragen. So bestach die Auswahl durch brisante soziale und politische Themen, die regional verortet wurden und doch an globale Fragestellungen anknüpfen konnten. Man sah aufwühlende Bilder jenseits von Glamour oder vorgeprägten Stereotypen. Es wurden Einblicke in Lebenswelten ermöglicht, die die Betrachter_innen in unbekannte und selten filmisch eingefangene Welten entführten. Diese ließen einen erschauern oder rissen einen freudig mit – cineastisch gekonnt eingefangen, zum Teil doch manchmal einem moralischen Appell untergeordnet.

Hierzu kann man den einfühlsamen gujaratisprachigen Film "The Good Road" (Dir. Gyan Correa, 2013) zählen. Er beschreibt überzeugend die Atmosphäre indischer Highways und ihre Rolle als temporärem Begegnungsraum und markiert darüber hinaus einen thematischen Fokus des Festivals auf Roadmovies. Die Geschichten zweier Lastwagenfahrer, eines Mädchens auf der Suche nach ihrer Großmutter und einer Mittelschichtenfamilie aus Mumbai kreuzen sich irgendwo im Randgebiet der Salzwüste von Kutch auf einem endlos scheinenden Highway. Trotz einiger schauspielerischen Schwächen und gelegentlich zu dick aufgetragener märchenhafter Einschübe, porträtiert der Film einfühlsam seine Charaktere und streift dabei ernste gesellschaftliche Themen wie die Kluft zwischen Arm und Reich, Korruption oder Prostitution Minderjähriger.

Zu jüngeren Kinohits aus der hindisprachigen Filmindustrie, wie dem biographisch angelegten "Run Milkha Run" (Dir. Rakeysh Omprakash Mehra, 2013) über einen der wichtigsten Sportler in der Geschichte Indiens, gesellten sich Überraschungserfolge wie der Independent-Film "Citylights" (Dir. Hansal Mehta, 2013). Dieser schildert sehr eindrücklich die Doppelrolle Mumbais als glitzernde Verheißung und korrumpierender Moloch anhand der verzweifelten Geschichte einer gutmütigen aber naiven jungen Familie aus Rajasthan.

Das Marathi-Kino wurde repräsentiert durch die Liebesgeschichte "Fandry" (Dir. Nagraj Manjule, 2013). Fandry, übersetzt "Schwein", greift die ungleiche soziale Stellung der sogenannten "Unberührbaren" in dörflichen Regionen auf; ihre Träume über die Begenzungen des alltäglichen Lebens hinweg bis hin zu Momenten der Unerträglichkeit. Einem ganz anderen Thema widmet sich das Drama "Astu" (Dir. Sumitra Bhave, Sunil Sukhtankar, 2013). Astu, übersetzt: "so sei es", erzählt eindrücklich die Geschichte eines alten alzheimerkranken Mannes, der verschwunden ist, und beschreibt das Dilemma der Tochter, die sich um ihn kümmert. Das bislang auch hier nur wenig beachtete Topos des Älterwerdens gewann verdient und gleichsam berührend den Publikumspreis. Hauptdarsteller Dr. Mohan Agashe, der neben dem Schauspiel auch den Beruf des Psychiaters ausübt, nahm den Preis bei der Verleihung entgegen.

Gewinner
Die in Stuttgart anwesenden Preisträger Kamal Musale (Dokumentarfilm "Milliions Can Walk"), Richie Mehta (Spielfilm "Siddharth") und Dr. Mohan Agashe (Hauptdarsteller in "Astu", Publikumspreis). Foto: Frank von zur Gathen

Gewalt und Sexualität prägen den hindisprachigen Film "Lakshmi" (Dir. Nagesh Kukunoor, 2014), der auf dem Filmfestival seine Deutschlandpremiere feierte. Die Geschichte eines 14-jährigen Mädchens, das im Bundesstaat Andhra Pradesh von ihrem Vater verkauft und anschließend in einem Bordell in Hyderabad zur Prostitution gezwungen wird, erzählt eine harte aber authentische Facette der indischen Realität abseits von Bollywood-Klischees. Basierend auf einer wahren Geschichte, prangert der Film an, zeigt qualvolle Szenen in Echtzeit und ist dadurch nicht unbedingt ein Sehvergnügen, doch nimmt die Geschichte eine Wendung weg von reiner Opfer-Repräsentation und inszeniert die junge Lakshmi als kämpferische, selbstbewusste junge Frau, die letztendlich einen Menschenhändlerring vor Gericht bringt und sich dem Dickicht von korrupter Politik, Polizei und unmenschlichen Bedingungen entschieden entgegen stellt. Nicht ohne Grund ging der "Director's Vision Award" am Ende des Festivals an "Lakshmi". Dieser Preis richtet sich an Regisseure, die in ihrem Filmbeitrag ambitioniert den Blick auf einen kulturellen, sozialen oder gesellschaftlichen Missstand richten.

Auch in dem Thriller "Monsoon Shootout" (Dir. Amit Kumar, 2013) geht es um Leben und Tod. Er fängt die gefährlichen Netze und Machenschaften von Polizei und Mafia in Mumbai gekonnt ein; brutal, nah und ausweglos, wenn auch in einer etwas ermüdenden Erzählform sich wiederholenden Episoden erzählt, in denen nur ein kleines Detail verändert wird und damit dem Geschehen einen völlig anderen Ausgang beschert. Der Film besticht jedoch durch seine Kamera und Ästhetik - und belohnt mit exzellentem Schauspiel. Viele der Protagonisten des Films und heutigen Shooting Stars des indischen Independent Kinos wie Nawazuddin Siddiqui, die auch in Cannes keine unbekannten Gesichter mehr sind, kürten bereits in den vergangenen Jahren den Roten Teppich des Filmfestivals in Stuttgart – und zeugen von der visionären Arbeit des Festivalteams.

Den besonderen Reiz des Programms machte jedoch auch die Abwechslung von Filmformaten aus. Neben den Spielfilmen gab es an jedem der vier Tage einen einstündigen Kurzfilmblock mit einem gelungenen Potpourri aus Themen. Des Weiteren konnten einige eindrückliche Dokumentarfilme eingeholt werden, wobei in diesem Jahr mit drei Filmen der Schwerpunkt auf deutsch-indischen Geschichten lag. "Translated Lives – Migration Revisited" (Dir. Shiny Jacob Benjamin, 2013) zeigt eine Generation von Frauen auf, die in den 1960er Jahren Indien (insbesondere Kerala) verlassen haben und nach Deutschland gekommen sind, um dort als Krankenschwestern zu arbeiten und porträtiert damit eine der größten indischen Migrationswellen ins Nachkriegsdeutschland. "Amma & Appa" (Dir. Franziska Schönenberger, Jayakrisnan Subramanian, 2014) erzählt die Geschichte zweier älterer Ehepaare aus Bayern und Südindien, die durch die Heirat ihrer Kinder plötzlich miteinander in Kontakt kommen. Der dritte Dokumentarfilm in diesem Kontext, "Good Luck Finding Yourself" (Dir. Severin Winzenberg, 2013), greift die Indien-Sehnsucht der deutschen Hippiegeneration aus der Perspektive der ehemaligen 68er-Ikonen Jutta Winkelmann und ihrem langjährigen Freund Rainer Langhans auf. Nach einem intensiven Leben und einer Krebsdiagnose machen sie sich noch einmal auf den Weg nach Indien, den sie mit der Suche nach innerem Frieden verbinden.

Rainer Langhans
Rainer Langhans in der Doku "Good Luck Finding Yourself", die im Oktober in die deutschen Kinos kommt. Foto: Filmbüro Baden-Württemberg

Besonders hervorzuheben ist auch ein Doppelblock von kritischen indischen Dokumentarfilmerinnen zu Sexualität im heutigen Indien. Pramada Menons "And You Thought You Knew Me" (Dir. Pramada Menon, 2013) begleitet junge Menschen durch ihren Alltag in Delhi, die jenseits der heterosexuellen Norm leben. Die Filmemacherin lässt sie ihre Geschichten von der Suche nach der eigenen (sexuellen) Identität erzählen - teilweise mit Porträtaufnahmen, teilweise aus dem Off gesprochen. Der Dokumentarfilm besticht durch ungewöhnliche Delhi-Bilder und die sehr intime Erzählweise der Protagonistinnen. Direkt im Anschluss lief "My Sacred Glass Bowl" (Dir. Priya Thuvassery, 2013), in dem die Regisseurin ausgehend von der eigenen Biographie der gesellschaftlichen Konstruktion von Jungfräulichkeit nachgeht. Sehr gelungen schafft Thuvassery eine Collage aus eigener Erzählung und Interviews, die sie durchsetzt mit animierten Bildern, Gedichten und Kurzgeschichten. So kreativ und anregend diese Vorgehensweise ist, so wirkt die Auswahl der Interviewpartnerinnen doch etwas sehr zufällig und zeigt vor allem eine sehr konservative Einstellung gegenüber weiblicher Sexualität.

Der Eröffnungsfilm "Siddharth" (Dir. Richie Mehta, 2013) gewann den "German Star of India", die höchste Auszeichnung des Festivals, und handelt von einem Vater, der sich auf die hoffnungslose Suche nach seinem verschleppten zwölfjährigen Sohn macht. Der Film beschreibt den Alltag einer verarmten Familie in einem Slum in Delhi; die Suche nach dem eigenen Kind, ohne auch nur eine Foto von ihm zu besitzen; die Reise eines Mannes, der gefangen ist in seiner prekären Alltagswelt, und all der Unterstützung, die er dabei erfährt. Der Film berührt nicht nur damit, dass er ein brisantes und zahlenmäßig erschütterndes Thema aufgreift, nämlich dem der Kindesverschleppung in Indien, deren Opfer für Prostitution bis hin zu illegalem Organhandel missbraucht werden. "Siddharth" besticht durch die Art und Weise wie der Filmemacher Richie Mehta, ein gebürtiger Kanadier, durch seine einfühlsame Kamera, dem gelungenen Drehbuch und exzellentem Spiel der wenigen Protagonisten intime Einblicke in eine andere Welt in Indien zu geben vermag. Ergreifende, realistische Bilder, die die Zuschauenden einfangen aber nie eine bestimmte Wertung aufzwingen – vielmehr ist man als stille Beobachter_in dabei und bleibt bei all der Zuversicht aber gleichzeitigen Ausweglosigkeit tief bewegt und aufgewühlt zurück. Ein faszinierender Film, der ein sehr menschliches Bild zu zeichnen vermag – irgendwo angesiedelt zwischen Optimismus und Fassungslosigkeit, stoischer Kraft und unbeschreiblicher Ohnmacht.

Siddharth
Gewinner-Spielfilm "Siddharth" Foto: Filmbüro Baden-Württemberg

Wie die rege Diskussion während des Schülerscreenings des Gewinnerfilms zeigte, ermöglichte das Festival nicht nur den Blick in unbekannte Welten und lieferte damit enormes Potential zur Diskussion, sondern lenkte durch den direkten Austausch mit den Filmschaffenden über ihre Intention und Agenda hinter dem Film auch zu Erkenntnissen und Reflexion berührender und relevanter Themen – zuhause und anderswo.

Ein gut zusammengestelltes Filmprogramm mit interessanten Gästen an einem pulsierenden Ort konnte über 5.000 Besucher_innen anlocken - und damit das 11. Indische Filmfestival zu einem gelungenen Event und außergewöhnlichen Erlebnis machen. Die nächste Edition findet vom 15.-19. Juli 2015 statt.

"Siddharth", der große Gewinner des Festivals, wird demnächst in den deutschen Kinos zu sehen sein (Filmstart steht noch nicht fest), ebenso die Dokumentarfilme "Amma & Appa" (Kinostart 4. September 2014), "Good Luck Finding Yourself" (Kinostart 23. Oktober 2014) und "Millions Can Walk" über den Protestmarsch landloser Bauern und Adivasis (Dir. Christoph Schaub und Kamal Musale, 2013), der in der Kategorie Dokumentarfilm gewann. Geplant ist eine Tour im Oktober 2014.

Das komplette Programm mit Kurzbeschreibungen zu allen Filmen findet sich unter www.indisches-filmfestival.de.

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.