Inhalt

17. Juni 2010. Interviews: Bhutan - Politik & Recht Bhutan misst das Bruttosozialglück

Interview mit Bhutans Premierminister Jigmi Y. Thinley

Der kleine, tibetisch-buddhistisch geprägte Himalaya-Staat macht keine Schlagzeilen in der Weltpolitik. Erst im März 2008 bescherte der König Bhutans seinen Untertanen das erste demokratisch gewählte Parlament. Mit der bald darauf verabschiedeten Verfassung wurde Bhutan zur konstitutionellen Monarchie. Unter Ökonomen erregte Bhutan vor einigen Jahren Aufmerksamkeit, als die neu gewählte Regierung beschloss, das vom aufgeklärten Monarchen befürwortete Maß für den Wohlstand des Landes in der Regierungspraxis anzuwenden: das Bruttosozialglück (gross national happiness). Bhutan sollte auf die vom Westen vorgegebenen, auf monetäre Größen fixierten Wohlstandsmaße verzichten und einen für Südasien neuen Weg gehen, nämlich den Wohlstand seiner Bürger nicht mehr am allseits kritisierten, doch immer noch völlig dominanten Bruttosozialprodukt zu messen. Das war der wichtigste Grund für die Organisatoren des international bekannten "Festival dell'Economia" in der norditalienischen Alpenstadt Trient vom 3. bis 6. Juni 2010, den Premierminister Bhutans einzuladen, der am 5. Juni einen vielbeachteten Vortrag hielt.

Bhutan hat als erstes Land ein neues Maß für die Messung von Wachstum und Wohlstand entwickelt, das das weltweit gängige BIP oder BSP mit all seinen Grenzen ersetzen soll. Warum dieses neue Messinstrument?

Es wird immer deutlicher, dass das vom quantitativen Wachstum geleitete Entwicklungsmodell gescheitert ist. Diese Einsicht ist nicht mehr begrenzt auf einige Nischen der Gesellschaft oder einige wenige Länder, sondern muss sich weltweit durchsetzen, weil das Überleben der Menschheit davon abhängt. Die vielen Krisen der Weltwirtschaft der letzten Jahre zeigen uns deutlich, dass wir Nachhaltigkeit zum neuen Grundkriterium unseres politischen Handelns machen müssen.

Sie haben kürzlich geschrieben: "Materielles Wohlbefinden ist nur ein Teil unseres Glücks, das noch nichts darüber aussagt, ob jemand in Einklang mit der Umwelt und in Harmonie mit den Mitmenschen lebt." Welche Auswirkungen hat Ihr Konzept des Bruttosozialglücks auf die Politik im Königreich Bhutan?

In der Entwicklung unseres Landes lassen wir uns von den vier Grundpfeilern des Bruttosozialglücks leiten: der Schutz der Umwelt, die Bewahrung unserer kulturellen Werte, eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die alle einschließt, und eine gute Regierung. 1 Dies drückt sich zum Beispiel in der hohen Priorität der Ausgaben für die Sozialpolitik aus, die in den letzten drei 5-Jahres-Plänen mehr als 30 Prozent des Staatsbudgets umfassten. Gesundheit und Bildung sind für die Bürger Bhutans größtenteils kostenlos. Die Wälder stehen unter Schutz und bedecken über 70 Prozent der Landesfläche. Für die Politik bedeutet die Anwendung des Bruttosozialglücks, dass unsere Regierung jede politische Entscheidung an diesem Maßstab messen muss. Das Gemeinwohl aller Bürger Bhutans ist entscheidend, und zwar nicht nur der heute lebenden Generationen, sondern auch der zukünftigen.

Jigmi Yoser Thinley
Jigmi Yoser Thinley (geboren 1952 in Bumthang) ist der erste demokratisch gewählte Premierminister Bhutans. Zuvor war er Außenminister. Innen- und Kulturminister. Thinley hat das St. Stephen's College der Universität Neu Delhi besucht und eine Master in Public Administration an der Pennsylvania State University erworben. Er hat außerdem den Vorsitz der nationalen Umweltschutzkommission Bhutans und des Instituts Wangchuk Ugyen für den Umweltschutz (UWICE). Er ist Präsident der Maha Bodhi Society Indiens und hat verschiedene internationale Auszeichnungen erhalten wie etwa den "HR Strategic and Iconic Leader Award" des World HRD Congress 2010 in Mumbai. Im Rahmen des SAARC-Gipfels Ende April 2010 in Thimphu hat Thinley von Sri Lanka den Vorsitz der SAARC übernommen. Foto: www.cabinet.gov.bt

Wie kann man das Glück messen?

Wir befragen unsere Bürger regelmäßig nach ihrem Glück und haben neun Lebensbereiche bestimmt, zu welchen eine Person ihre Zufriedenheit äußern soll:
1) Einkommen und Sicherheit des Arbeitsplatzes
2) Wohnung
3) Bildung
4) Zustand der Umwelt
5) Kulturelle Vielfalt und Teilnahme an der Kultur
6) Lebendigkeit der Gemeinschaft
7) Verfügbarkeit und Einstellung zur Zeit
8) Geistiges und psychisches Wohlbefinden
9) Die gute Regierung
Diese neun Bereiche sind ihrerseits in 72 Unterbereiche unterteilt. Wenn wir in Bhutan Untersuchungen zum Glück vornehmen, dann stellen wir Fragen zu diesen 72 Bereichen. Dieses Indikatorenset ist noch nicht vollständig, doch wir entwickeln es weiter. Alle öffentlichen Programme und größeren Projekte werden in ihren Auswirkungen auf diese Bereiche geprüft. Wenn sie nicht in Einklang zu bringen sind, müssen sie im Parlament neu diskutiert und überarbeitet werden. Bei der letzten Studie in Bhutan haben wir abschließend die Frage gestellt: "Sind Sie glücklich?" 52 Prozent haben geantwortet: "Ja, ich bin glücklich", 45 Prozent haben gesagt: "Ich bin sehr glücklich", während 3 Prozent sich als "Nicht so glücklich" bezeichnet haben.

Ist dieses multidimensionale Konzept von Wohlstand auch auf andere Gesellschaften übertragbar?

Sicher, diese Bereiche sind allen Menschen und Gemeinschaften gemeinsam. Sehr wichtig ist auch der Einschluss der kulturellen Gemeinschaft und der psychologischen Befindlichkeit. Wenn wir das Karma als Komponente des Wohlstands einbeziehen, ist dies wiederum schlecht auf westliche Gesellschaften übertragbar. Man muss dann diese 72 Bereiche auf den jeweiligen kulturellen Kontext anpassen. Doch muss man betonen, dass nicht alle Personen das Maximum an Glück in all diesen 72 Bereichen erreichen müssen. Es genügt ein akzeptables Niveau. Unser Wohlstandsmaß unterscheidet sich vom klassischen Konzept der Nutzenmaximierung westlicher Sozialwissenschaften auch in dieser Hinsicht.

Werden diese 9 Dimensionen aggregiert, um einen Wohlstandsindex daraus zu bilden und demnächst Ländervergleiche zu ermöglichen?

Nein. Diese Information kann nicht in einer einzigen Zahl als Wohlstandsindex zusammengefasst werden. Die Komplexität dieser Messung kann nicht auf eine einzige Zahl reduziert werden, auch wenn dies in der Mediengesellschaft oft verlangt wird.

Ihr Land hat 2008 erstmals demokratische Wahlen abgehalten und sich eine neue Verfassung gegeben. Darin wird in Art. 5 feierlich erklärt: "Jeder Bürger hat die Pflicht, die reiche Biodiversität Bhutans zu bewahren und jede Form ökologischen Schadens zu vermeiden." Wie kommen Sie dieser Pflicht nach?

Unsere Verfassung bildet die Grundlage für den Übergang Bhutans zu einem voll demokratischen Regierungssystem. Die Rechte und Verantwortung aller Bürger unseres Landes sind darin festgelegt, sowie die Prinzipien des politischen Systems unseres Landes. Die Ausarbeitung unserer Verfassung war übrigens ein offener Prozess, der die ganze Gesellschaft einbezogen hat. Eine Kommission mit Vertreten aus allen Bereichen unserer Gesellschaft hat zuerst einen Vorschlag erstellt. Dieser ist auf der Webseite des Königreichs veröffentlicht worden, und jeder Staatsbürger im Land und außerhalb konnte sich melden und Abänderungsvorschläge einbringen. Zudem sind gedruckte Versionen des Verfassungsentwurfs in Dzongkha und Englisch bis in jeden Winkel unseres Landes verteilt worden. Der König oder der damalige Kronprinz hat Bürgerversammlungen in jedem Distrikt abgehalten, um die Meinungen und Kommentare einzuholen. Nach diesem breiten Konsultationsprozess ist unsere Verfassung schließlich im Juli 2008 verabschiedet worden.

Ihre beiden großen Nachbarn, Indien und China, wachsen mit unglaublichen Raten, andere asiatische Länder liegen im Wirtschaftswachstum ebenfalls weit über dem BIP-Wachstum der europäischen und nordamerikanischen Länder. Wie ist dieses Wachstum mit der Bekämpfung des Klimawandels zu vereinbaren?

Es ist völlig klar, dass jedes Wirtschaftswachstum mit Raubbau an natürlichen Ressourcen nicht nachhaltig ist. Deshalb besteht das Problem nicht darin, wie das hohe Wachstum der asiatischen "Tigerstaaten" mit dem Kampf gegen den Klimawandel in Einklang gebracht werden kann. Hier gibt es gar keine Wahl. Die Frage stellt sich vielmehr, wie diese Länder und alle anderen Volkswirtschaften das Wachstum in ökologisch nachhaltiger Weise gestalten können. Das entspricht der UN-Resolution der letzten Generalversammlung 2009 unter dem Motto "Powering Green Growth, Protecting the Planet". Das ist die eigentliche Herausforderung, der wir uns stellen müssen und in dieser Hinsicht müssen wir alle gangbaren Wege erkunden. Wir müssen uns verpflichten, mehr umweltverträgliche Technologie einzusetzen. Die Industrieländer müssen den Entwicklungsländern beistehen, ihre Wirtschaft diesen Leitlinien anzupassen und die negativen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums zu vermeiden.

Welche Rechte auf Information haben die Bürger Bhutans?

Bei der Information ist Bhutan noch ein Entwicklungsland. Wir können uns nicht mit dem zufrieden geben, was wir derzeit haben. Doch laut Verfassung sind die freien Medien die 4. Staatsgewalt unseres Systems. Sie genießen Unabhängigkeit, der Staat darf sich nicht einmischen. Sie haben allerdings auch die große Verantwortung, eine korrekte Information zu bieten. Die Zahl der Medien steigt in Bhutan ständig an: es gibt 6 Tageszeitungen, mehrere Radiosender, leider bisher nur eine TV-Station. Der Zugang zum Internet ist frei und unzensiert. Es gibt keine Kontrollen der Medien in Bhutan.

Bhutan wird vorgeworfen, über 100.000 seiner Bürger, die ethnisch Nepali sind, vertrieben zu haben. Welche Vorstellung von Glück gilt für die Flüchtlinge? Welche Politik verfolgt Bhutan gegenüber den Flüchtlingen, sowohl den ehemaligen Staatsbürgern als auch den sogenannten Illegalen?

Bhutan hat Flüchtlinge immer aufgenommen. Wir haben beispielsweise unzählige Tibeter bei uns aufgenommen, die Flüchtlingsstatus haben, aber alle Rechte des Landes genießen. Bhutan hat auch Flüchtlinge aus Nepal aufgenommen, Umweltflüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge und politische Flüchtlinge. Wir haben diese verschiedenen Arten von Flüchtlingen bei uns integriert, so dass heute über 20 Prozent der Bevölkerung Nepali sind, die alle staatsbürgerlichen Rechte genießen. Nepal hat in den letzten Jahrzehnten seine Umwelt nicht so geschützt, sodass viele Menschen aufgrund der Armut und immer schlechteren Umweltbedingungen abwandern mussten. Viele dieser Flüchtlinge kamen nach Bhutan, weil es ein sicherer Ort ist, ein Land mit vielen Möglichkeiten, das illegale Einwanderer angezogen hat. Bhutan und Nepal versuchen eine gemeinsame Lösung dieses Problems herbeizuführen. Acht westliche Länder haben sich bereit erklärt, diese staatenlosen Flüchtlinge aufzunehmen.

Bhutan war vor kurzem zum ersten Mal Gastgeber des Gipfeltreffens der SAARC. Welche Ergebnisse hat dieses Treffen gezeitigt?

Obwohl wir Gründungsmitglied der SAARC sind, haben wir zum ersten Mal ein solches Gipfeltreffen beherbergt. Bei diesen Gipfeltreffen geht es immer wieder darum, ein gutes Gesprächsklima zwischen den führenden Vertretern der acht Nationen Südasiens zu schaffen. Dieser Geist der Zusammenarbeit hat sich in der Schlusserklärung niedergeschlagen, die "Thimpu Silver Jubilee Declaration" mit dem Titel "Für ein glückliches und grünes Südasien". 2 Darin wird der Wille zur Zusammenarbeit in der Region neu bekräftigt. Schwerpunkt des Gipfels war der Klimawandel. Alle Mitgliedsstaaten sind übereingekommen, für die 16. Post-Kyoto-Konferenz Ende November in Mexiko eine gemeinsame Position zu formulieren. Das ist von herausragender Bedeutung, weil es der SAARC gelungen ist, in der Bekämpfung des Klimawandels eine einheitliche Position zu finden und in den Verhandlungen eine gemeinsame Linie zu verfolgen. Für eine bessere Zusammenarbeit innerhalb Südasiens auf diesem Gebiet wollen wir eine gemeinsame road map erstellen. Zu diesem Zweck haben wir in Thimphu eine Konvention zur Zusammenarbeit in der Umweltpolitik unterzeichnet.

Was hat der SAARC-Gipfel außerdem erbracht?

Wir haben ein weiteres regionales Abkommen zum freien Dienstleistungsverkehr unterzeichnet, nämlich das "Trade in Service", das unsere Abkommen zum freien Warenverkehr ergänzt. Außerdem sind die Voraussetzungen geschaffen worden, dass der SAARC-Entwicklungsfonds 3 seine Tätigkeit konkret aufnehmen kann. Der Fonds wird sowohl internationale als auch substaatliche Entwicklungsprojekte finanzieren. Schließlich haben wir einen weiteren Meilenstein gesetzt, nämlich im kommenden August wird die South Asian University in Neu Delhi eröffnet und als ein Spitzenausbildungsplatz für ganz Südasien ausgebaut werden.

 

Fußnoten

[ 1 ] Im Original: "good governance"

[ 2 ] Im Original: "Towards a green and happy South Asia"

[ 3 ] Im Original: SDF, SAARC Development Fund

 

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.