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26. August 2010. Kommentare: Weltweit - Wirtschaft & Soziales Armut ohne Ende?

Eine Zwischenbilanz der Millenniumsziele

"Zahlen dominieren das gesellschaftlich-politische Denken", konstatierte jüngst der Historiker Andreas Rödder in einem vielbeachteten Essay. Das gilt auch für die Entwicklungspolitik der internationalen Staatengemeinschaft. Seit die Millenniumsziele im Jahr 2000 verabschiedet wurden, sind die dort festgelegten Quoten zum Dreh- und Angelpunkt der staatlichen Entwicklungspolitik geworden. Doch Armutsbekämpfung lässt sich nicht auf die Erreichung einiger quantitativer Zielmarken beschränken.

Bis 2015 soll der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben und Hunger leiden, halbiert werden. Ausgangslage sind die Zahlen von 1990. Darauf haben sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf dem Millenniumsgipfel vor zehn Jahren verständigt. Es ist das erste von acht Entwicklungszielen, um die größten Herausforderungen der Menschheit zu bewältigen: Armut und Hunger, fehlende Bildungschancen für Kinder, Geschlechterdiskriminierung, Kinder- und Müttersterblichkeit, Krankheiten wie Malaria und HIV/Aids. Doch wie kein anderes Millenniumsziel ist die Halbierung der extremen Armut und des Hungers zum Gradmesser geworden für die Glaubwürdigkeit der globalen Entwicklungspolitik und ihrer Institutionen. Bislang sind die Anstrengungen der Weltgemeinschaft unzureichend. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon fordert deshalb einen Aktionsplan, damit die Ziele noch erreicht werden können. Sie zu verfehlen wäre "ein inakzeptables Versagen", mahnt er, "moralisch und praktisch". In seinem diesjährigen Bericht zur Millenniumskampagne warnt er ausdrücklich vor den Folgen eines Scheiterns: "Die Risiken dieser Welt würden sich vervielfachen: von Instabilität über Epidemien bis hin zu Umweltzerstörung".

Zahl der Hungernden steigt

Fünf Jahre bleiben der Weltgemeinschaft noch, um ihren Willen und ihre Fähigkeit zu demonstrieren, die gegebenen Versprechen zu halten. Auf dem Weltarmutsgipfel der Vereinten Nationen im September 2010 müssen endlich die Weichen dafür gestellt werden. Zwar konnte der Welthunger-Index, ein Instrument zur statistischen Erfassung des weltweiten Hungers, seit 1990 um etwa ein Viertel gesenkt werden. Dieser Wert täuscht jedoch darüber hinweg, dass die absolute Zahl der Hungernden im gleichen Zeitraum gestiegen ist: von 817 Millionen auf über eine Milliarde Menschen. Dabei leben 80 Prozent der Hungernden in ländlichen Regionen und arbeiten selbst in der Landwirtschaft, sind somit Nahrungsproduzenten. Ihre Ernte oder ihr Einkommen reicht aber nicht aus für eine angemessene Ernährung. Seit 2008 hat sich die Lage der Ärmsten deutlich verschlechtert infolge der teils horrenden Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise. Es ist ein Skandal: Täglich sterben bis zu 25.000 Menschen an den Folgen ihrer Armut, mehr als die Hälfte davon sind Kinder. Gleichzeitig verdienen andere an den Missverhältnissen. Aus globaler Perspektive scheint die Verwirklichung des 1. Millenniumsziels, den Anteil der extremen Armen und der Hungernden bis 2015 zu halbieren, inzwischen in unerreichbarer Ferne.

Grundbildung: gute Quote, schlechte Qualität

Bildung ist eine wichtige Säule im Kampf gegen den weltweiten Hunger. Sie befähigt Menschen, ihr Leben besser zu bewältigen, ihre Gesellschaft mitzugestalten und aktiv am Leben der Gemeinschaft wie an politischen Prozessen teilzunehmen. Außerdem hilft sie Krankheiten zu vermeiden und führt so zu einer höheren Lebenserwartung. Daher beschloss die internationale Gemeinschaft im Jahr 2000 auf dem Weltbildungsforum in Dakar den Aktionsplan "Bildung für alle". Zwei der dort genannten Ziele wurden auch Millenniumsziele: Grundschulbildung für alle Kinder (Ziel 2) und Geschlechterparität in der Grund- und Sekundarschulbildung (Ziel 3) weltweit.

Schule in Joypurhat
Spätestens 2015 sollen alle Kinder weltweit eine Grundschulbildung abschließen können. Doch damit ist es nicht getan, denn die Qualität des Unterrichts ist vor allem in ländlichen Regionen oftmals mangelhaft. Foto: Zahidul Karim Salim / NETZ

Im Bereich Bildung haben die Millenniumsziele wichtige Impulse gegeben. Die Zahl der Mädchen und Jungen in Entwicklungsländern, die eine Schule besuchen, ist in den letzten zehn Jahren zum Teil deutlich gestiegen. In Bangladesch beispielsweise lag die Einschulungsrate 2007 nach Angaben der Vereinten Nationen bei 89 Prozent, ein Drittel mehr als noch 1990. Doch das hochgesteckte Ziel der allgemeinen Grundschulbildung für alle Kinder ist längst nicht erreicht. Nach dem aktuellen Weltbildungsbericht der UNESCO können weltweit noch immer 72 Millionen Kinder keine Grundschule besuchen, über 4 Millionen davon leben in Bangladesch. Wenn sich die Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft nicht erhöhen, wird sich an diesen Zahlen bis zum Jahr 2015 nicht viel ändern. Am meisten betroffen sind die Kinder armer Familien und indigener Minderheiten, vor allem Mädchen sowie Kinder mit Behinderungen. Hinzu kommen weitere Probleme, die im Rahmen der Millenniumsziele nur nachrangig behandelt werden. Viele Mädchen und Jungen, die eine Grundschule besuchen, müssen diese infolge der Armut ihrer Eltern vor dem Abschluss der 5. Klasse abbrechen. In Bangladesch beispielsweise betrifft dies ein Drittel der eingeschulten Kinder. Doch auch die Absolvierung der Grundschule garantiert nicht den Erwerb einer ausreichenden Lern- und Lesekompetenz, denn die Qualität des Unterrichts ist vor allem in ländlichen Regionen oftmals mangelhaft.

Deutschlands Beitrag ist unzureichend

Der Beitrag Deutschlands zur Erreichung der Millenniumsziele ist bisher gekennzeichnet durch mangelhafte Umsetzung finanzieller Zusagen, unzureichende Prioritätensetzung und entwicklungspolitische Stückwerkarbeit. Anfang März 2010 stellte Entwicklungsminister Dirk Niebel sogar das internationale Ziel infrage, die Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu steigern: "Wir müssen mit unseren Partnern diskutieren", sagte er dem Hamburger Abendblatt, "ob das Volumen oder die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe die entscheidende Größe ist". Nach zahlreichen Protesten stellte Kanzlerin Angela Merkel Anfang Juni schließlich klar: "Wir halten an diesem Ziel fest", auch wenn dessen Umsetzung und Einhaltung "sicherlich keine leichte Aufgabe" sei.

Im Jahr 2010 ist der Haushalt des Entwicklungsministeriums im Vergleich zum Vorjahr um 256 Millionen auf 6,07 Milliarden Euro gestiegen. Das entspricht einer Steigerung von 4,4 Prozent. Der Anteil am Bundeshaushalt beträgt rund 0,4 Prozent. Damit hat die Regierung das zugesagte Zwischenziel, in diesem Jahr 0,51 Prozent zu erreichen, klar verfehlt. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, argumentiert sie, ließen eine entsprechende Erhöhung des Entwicklungsbudgets nicht zu. Auch im nächsten Jahr wird sie dieses Ziel nicht erreichen. Im Etatentwurf für 2011 ist lediglich ein minimaler Zuwachs des Entwicklungsbudgets in Höhe von 3 Millionen Euro vorgesehen. "Es ist enttäuschend, dass das BMZ sich bei den Haushaltsverhandlungen nicht durchsetzen konnte", kommentierte Ulrich Post, der Vorsitzende des Verbandes Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) und warnte: "Mit dem jetzt verabschiedeten Entwicklungsetat, steht die Verlässlichkeit der Bundesregierung auf dem Spiel."

Für eine wirksame Umsetzung der Millenniumsziele sind angemessene, das heißt mindestens die bereits zugesagten Finanzmittel zwingend erforderlich. Trotz der Sparzwänge darf nicht weiter am Entwicklungshaushalt gespart werden. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland mäßig ab: 2009 lag die durchschnittliche Quote der Entwicklungsausgaben der Industriestaaten bei 0,48 Prozent. Norwegen, Schweden, Dänemark und die Niederlande erfüllen bereits jetzt das UN-Ziel von 0,7 Prozent, liegen teilweise sogar deutlich darüber. Belgien, Finnland, Irland und Großbritannien haben zumindest das Zwischenziel von 0,51 Prozent erreicht, Frankreich und Spanien liegen nur knapp darunter. Das zeigt: Es liegt am fehlenden politischen Willen, nicht an der wirtschaftlichen Krisensituation, dass Deutschland seine Zusage bricht. In diesem Fall ist das Verhalten der Bundesregierung weder verständlich noch akzeptabel, denn der Wortbruch hat unmittelbare Folgen für Millionen von Menschen, die vom Hungertod bedroht sind.

Umfassende Entwicklungsagenda unerlässlich

Gleichwohl darf die Forderung an die Bundesregierung und an die internationale Staatengemeinschaft, die finanziellen Zusagen zur Erreichung der Millenniumsziele einzuhalten, nicht zum Trugschluss führen, dass so Armut nachhaltig bekämpft werden kann. Zu Recht kritisierte jüngst der Politikwissenschaftler Uwe Holtz die Millenniumsziele als "defekte Vision", denn sie benennen zwar "wichtige Mindestvoraussetzungen für ein besseres Leben, stellen aber keine umfassende Entwicklungsagenda dar". Das heißt: Es müssen im Rahmen der Millenniumskampagne und darüber hinaus endlich umfassende Programme entwickelt werden, die dezidiert darauf ausgerichtet sind, jene Strukturen zu ändern, die immer wieder neue Armut erzeugen. Entscheidend für den Erfolg solcher Programme ist die Stärkung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Institutionen, welche die Ärmsten befähigen, sich aus eigener Kraft und auf der Grundlage eines unabhängigen und zugänglichen Rechtssystems selbst dauerhaft aus der Armut zu befreien. Deshalb ist eine umfassende Entwicklungsagenda zwingend notwendig, welche auch die Ansichten und Forderungen aus den Zivilgesellschaften der jeweiligen Länder ernsthaft berücksichtigt und bisher vernachlässigte Aspekte wie die Achtung der Menschenrechte, Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Klimaschutz stärker einbezieht.

Das den Millenniumszielen zugrunde liegende Verständnis der Armutsbekämpfung betrachtet Armut losgelöst von ihren strukturellen Ursachen, von gesamtwirtschaftlichen Prozessen, sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten bei der Ressourcen-Verteilung. Armutsbeseitigung ist hier nur als Bekämpfung von Symptomen durch Investitionen und materielle Verbesserungen angelegt. Ein Minimalkonsens, dem alle Staats- und Regierungschef zustimmen konnten, ohne sich mit den Ursachen von Ausbeutung und Diskriminierung auf globaler wie nationaler Ebene auseinandersetzen zu müssen. Die Soziologin Christa Wichterich spricht in diesem Zusammenhang von einem "entpolitisierten Armutsverständnis".

Bäuerinnen bei Ausbringen von Reissetzlingen
Bäuerinnen bei Ausbringen von Reissetzlingen in Joypurhat Foto: Zahidul Karim Salim / NETZ

Globale und nationale Interessenkonflikte zu Lasten der Ärmsten
Dabei sind die strukturellen Ursachen der Armut seit langem bekannt. Sie liegen einerseits in den ungerechten Strukturen der Länder des Südens und andererseits in der rücksichtslosen nationalen Interessenpolitik der Länder des Nordens. Ein Kernproblem in den Entwicklungsländern ist die ungleiche Landverteilung. Die Ärmsten besitzen nur wenig oder kein eigenes Land, von dessen Bewirtschaftung sie leben könnten. Das erschwert ihnen auch den Zugang zu anderen Ressourcen wie Wasser oder Kapital. Deshalb bleiben sie meist im Teufelskreis der Armut gefangen - lebenslang. Bangladesch ist hierfür ein typisches Beispiel: Dort leben 75 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gebieten, wo nur jede zweite Familie eigenes Land besitzt. Der Großteil der ärmsten Menschen ist landlos. Verstärkt wird dieser Trend durch Landaneignungen einflussreicher Personen, wie Großgrundbesitzer, Politiker und Industrielle. Leittragende sind meist die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft: die ärmsten Familien, Frauen geführte Haushalte sowie religiöse und indigene Minderheiten.

Die ungerechten Strukturen in den Entwicklungsländern werden noch gestärkt und gefördert durch die rücksichtslose nationale Interessenpolitik der großen Industriestaaten. Diese diktieren maßgeblich die Regeln im Welthandel. Ihre Exportsubventionen machen die Produktion von Nahrungsmitteln in Entwicklungsländern unrentabel. Patente auf Saatgut sowie Medikamente, die dringend im Kampf gegen HIV/AIDS oder Malaria benötigt werden, sind im Besitz von Großkonzernen aus dem Norden, welche die Ausgaben für die medizinische Versorgung unnötig in die Höhe treiben. Die lebenswichtige Medizin ist viel zu teuer für die Kranken in den Entwicklungsländern. Auch der aktuelle Trend der Ländergrenzen überschreitenden Landnahme ist besorgniserregend. Firmen und Regierungen aus dem Norden, aber auch die Regierungen Chinas und Saudi-Arabiens, kaufen oder pachten riesige Landflächen in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Infolge schwankender Weltmarktpreise versuchen sich die Investoren damit knapper werdendes Land zu sichern, beispielsweise für den Anbau von Pflanzen zur Herstellung von hochrentablen Produkten wie Biodiesel. Dadurch steht in den Ländern des Südens immer weniger Land für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung, was den Zugang der Ärmsten zu diesem Land immer mehr erschwert.

Die Auflistung ließe sich noch um viele Punkte ergänzen, doch auch so wird bereits deutlich: Selbst wenn es tatsächlich noch gelingen sollte, den Anteil der extrem Armen und der Hungernden zwischen 1990 und 2015 zu halbieren, werden die strukturellen Ursachen für Armut bis dahin nicht behoben sein. Bezeichnenderweise ist das 8. Millenniumsziel, der Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft zur Beseitigung des gegenwärtigen Gefälles in den Nord-Süd-Beziehungen, auch nicht an diese zeitliche Vorgabe gebunden.

Aktionsplan für nachhaltige Entwicklung

Ein Paradigmenwechsel muss her. Anstatt die globalen Probleme und die Verantwortung dafür der nächsten Generation zu vererben, muss jetzt verantwortliches Regierungshandeln die Lösungen für die dringendsten Herausforderungen unserer Zeit auf den Weg bringen. Zu Recht fordert deshalb VENRO von der Bundesregierung auf dem diesjährigen Weltarmutsgipfel ein Zeichen zu setzen. Sie sollte einen ambitionierten Aktionsplan zur Erreichung der Millenniumsziele vorlegen, der auch Kernforderungen aus der Zivilgesellschaft enthält. Es wird höchste Zeit, dass sich Deutschland auf sein gegebenes Wort besinnt und die zugesagten Finanzmittel bereitstellt. Die deutsche Regierung ist aufgefordert, in ihren entwicklungspolitischen Strategien zur Armutsbekämpfung bei der Änderung von ungerechten Strukturen anzusetzen. Hierfür ist es notwendig, stärker als bisher die Sichtweise der Menschen in den Ländern des Südens einzubeziehen. Nur so ist es möglich, ein Scheitern im Kampf gegen die Armut zu verhindern.

 

Quelle: Der Beitrag erschien im Orginal in der Zeitschrift NETZ zum Thema "Armut ohne Ende? Zwischenbilanz der Millenniumsziele" (Ausgabe 2/2010).

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