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Aufgrund der häufigen direkten Assoziationen Indien und Kasten rückt gelegentlich aus dem Blick, dass schätzungsweise 80 Millionen Inder als Adivasi bzw. "Ureinwohner" oder Stammesbevölkerung gelten und damit nicht zur Kastengesellschaft zu rechnen sind. Von der geographischen Verteilung abgesehen ist auch die Größe der einzelnen Stammesgruppen höchst unterschiedlich. Während kleinere Gruppen wenige tausend Mitglieder zählen, umfassen die größten unter ihnen wie etwa die Gond oder Kondh mehrere Millionen Menschen.
Diese Bevölkerungsgruppe Indiens soll im folgenden kurz charakterisiert werden, wobei sich einige Beispiele aufgrund der eigenen Forschungen des Autors verstärkt auf die mittelindische Stammesgesellschaft beziehen.
Folgt man den administrativen Kategorien der indischen Regierung, so werden nach der Volkszählung von 1991 ca. 8% der Bevölkerung zu den sogenannten "Scheduled Tribes" gezählt. Gemeint sind derzeit 622 Gruppen, die in einem Anhang bzw. "Schedule" der Verfassung aufgelistet sind (siehe die > alphabetische Liste des Ministry of Tribal Affairs). Sie werden auch als Adivasi oder "Ureinwohner" bezeichnet. In absoluten Zahlen entsprach dies 1991 knapp 68 Millionen Menschen, die in diese Kategorie fallen. Heute dürften es etwa 82 Millionen Menschen sein. Zahlen aus der neuen Volkszählung von 2001 liegen aber noch nicht vor.
Die regionale Verteilung der tribalen Bevölkerung ist dabei höchst unterschiedlich. Während im Unionstaat Mizoram gut 94% zur Stammesbevölkerung gezählt werden, sind es nach dem Zensus in Uttar Pradesh nur 0,2 % (siehe Karte). Auch innerhalb der Unionsstaaten kann dabei die Verteilung durchaus heterogen sein. Liegt beispielsweise in Orissa der durchschnittliche Anteil der Scheduled Tribes bei gut 22%, so beträgt er, im Gegensatz zu Küstenorissa, in Gebieten im Nordwesten Orissas teils 60% und liegt damit signifikant höher.
Im Zensus bleibt allerdings unberücksichtigt, inwiefern auch Gruppen, die von der Regierung nicht als Scheduled Tribe klassifiziert werden, dennoch Werte und Ideen benachbarter Stammesgruppen teilen. Diesem Umstand tragen Ethnologen wie Sinha (1957: 107) oder Pfeffer (1997: 11, 2000: 342ff, 2002: 212ff) Rechnung, die es bevorzugen von einer symbiotischen "Stammesgesellschaft" zu sprechen. Eine solche kann auch Scheduled Castes (sogenannte "Unberührbare") oder Other Backward Classes ("rückständige" Unterkasten) einschließen, sofern sie in mehrheitlich von Stammesbevölkerung dominierten Gebieten leben, die dieselben kulturellen Idiome verwenden und über bestimmte gemeinsame Wertvorstellungen verfügen. Insofern handelt es sich bei den Scheduled Tribes des Zensus um eine künstlich separierte Kategorie. Lokale oder regionale Kategorien wie etwa die Desia - wörtlich: "die Einwohner des Landes" - im Süden des Unionstaates Orissa subsumieren und transzendieren dabei administrative Kategorien wie Scheduled Tribes. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass es sich bei vielen Stammesgruppen in Indien nicht um völlig autonome und unabhängige Einheiten handelt.
Die Konzepte "Stämme" oder "tribale Bevölkerung" sind vielfach kritisiert worden, sind wie "Kaste" sehr emotional besetzt und "moved scholars to ‘unscholarly anger'" wie der Ethnologe F.G. Bailey (1960: 263) einst bemerkte. Vor allem im afrikanischen Kontext hat man den Begriff "Stamm" fast vollständig zugunsten der Termini "ethnische Gruppen" oder "akephale Gesellschaften" aufgegeben, welche ihrerseits aber nicht unproblematisch sind. In Indien besteht zudem eine grundsätzliche Schwierigkeit im Gebrauch des Begriffs "Stamm" oder "tribe" durch eine doppelte Verwendung: einerseits als administrative Kategorie, d.h. als "Scheduled Tribe" innerhalb einer Auflistung der Regierung und andererseits als analytische, wissenschaftliche Kategorie. Erstere wird dabei nicht selten politisch motiviert als Etikett verliehen, ohne zwangsläufig lokalen oder regionalen Gegebenheit zu entsprechen.
Häufig werden diese Begriffe aufgrund ihrer abwertenden Konnotationen, vor allem im urbanen Indien, zurückgewiesen, da hier die Termini zum einen mit Rückständigkeit, Unterentwicklung, Promiskuität oder Alkoholkonsum assoziiert werden. Zum anderen herrschen paternalistische Ideen vor, d.h. die Stämme werden als unschuldige, naive oder näher an der Natur orientiertere Bevölkerung charakterisiert. Ein gutes Beispiel für eine solche Darstellung findet sich beispielsweise auf der Homepage der Regierung Orissas, wo zu lesen ist:
"Most tribal people ate [sic] basically working people, working to gather food and fuel or engaged in agriculture, which is often at a primitive level or maybe in some primitive craft: Their work is usually of subsistence type. The Adivasis may not be the so-called gentlemen, for they have to dig and delve, slash and sow or, pin and weave, but their uncomplicated Adamic approach to life and the basic human virtues, which constitute the hallmark of their integrated culture is fit for emulation, if feasible, by our acquisitive society."
(http://orissagov.org/imaorissa/tribe/tribehome.htm - 07.06.2003)
In anderen Fällen - und gelegentlich in Kombination mit diesen Stereotypen - führt man eine Unterscheidung der Stämme auf einen anderen "rassischen" Ursprung zurück, sieht die Differenz vorwiegend linguistisch definiert bzw. durch die geographische Distanz zur "Zivilisation" oder durch einen vermeintlich egalitäreren Charakter der Stämme. Alle diese Ansätze sind zu recht kritisiert worden und sollen hier nicht weiter verfolgt werden.
Der gegenwärtig in Indien weit verbreiteten Begriffe tribe (Stamm) oder tribal (Stammesangehöriger) leiten sich vom lateinischen Wort tribus ab, das eine politisch-territoriale Einheit im alten Rom bezeichnete. Ähnlich wie im Fall von Kaste entspricht dieser Begriff keiner indigenen bzw. einheimischen, indischen Kategorie. Doch wie wird "tribe" dann in Indien ausgedrückt? Wie Roy bereits 1925 für Stämme in Orissa notierte - und wie es weltweit von Stämmen bekannt ist - bedeutet der Eigenname eines Stammes zumeist einfach "Mensch". Dies gilt beispielsweise für die Remo in Orissa, die in Indien auch als Bondo bekannt sind. Der Name Birhor, eines weiteren Stammes in Orissa, bedeutet übersetzt soviel wie "Mensches des Waldes", während die Bhuyan sich als "Erdleute" sehen. Es ist zudem nicht ungewöhnlich, dass verschiedene Bezeichnungen, abhängig vom Kontext, für dieselbe Gruppe kursieren. So fand beispielsweise Gell (1992: 2), dass eine Gruppe in Bastar im Unionsstaat Chhattisgarh zwar von der Regierung als Gond und von Nicht-Mitgliedern häufig als "Muria" (Wurzel) bezeichnet wird, während sie selbst untereinander den Begriff "Koitor" (Mensch) verwenden. Später in Stammesgebiete immigrierte Kasten werden jedoch in Mittelindien zumeist deutlich unterschieden und häufig als "Diku" oder Eindringlinge bezeichnet.
Der zweite und häufig als politisch korrekter angesehene Begriff ist Adivasi, der soviel bedeutet wie "Ureinwohner" ("aborigines" / "original inhabitants"). Er wird von der indischen Regierung gelegentlich in Opposition zu Ana-Adivasi (Nicht-Adivasi) verwandt. Nicht selten kann man Dorfbewohner in Stammesgebieten treffen, die stolz verkünden Adivasi zu sein, wobei aber nicht alle ansässigen Stammesgruppen auch notwendigerweise "Ureinwohner" sein müssen, da es eine nicht zu vernachlässigende Migration von Stämmen in Indien gab und gibt. Davon abgesehen handelt es sich beim Term Adivasi um einen aus dem Sanskrit stammenden Begriff und somit um eine Fremdbeschreibung der Stämme.
In der gegenwärtigen indischen Praxis ist es zudem nicht ungewöhnlich, wenn sich Stammesgruppen wie etwa die Gond auch als "jati" verstehen und somit einen vieldeutigen Begriff verwenden, der zumeist mit Kaste übersetzt wird. Außerdem beanspruchen in manchen Fällen auch Stammesgruppen Kshatriya zu sein. Solche Statusansprüche scheinen dabei Prozesse der Assimilation in die Kastenhierarchie zu verdeutlichen und stehen für die betreffenden Gruppen keineswegs im Widerspruch mit einer Klassifikation durch die Regierung als Scheduled Tribe.
Der Umstand, dass externe Begriffe wie "Stamm" nicht einfach auf den indischen Kontext übertragbar sind und sich zudem eine Vielzahl einheimischer Begriffe finden lässt, mag zu der Debatte beigetragen haben, ob und inwiefern man überhaupt von Stämmen als separaten ethnischen Entitäten in Indien sprechen kann. Diese Debatte reicht bereits zurück in die 1930er Jahre. Einer der Hauptprotagonisten war dabei Verrier Elwin - ein vom Missionar zum Ethnographen und vom Briten zum Inder gewandelter "Philanthropologe", wie er sich selber gern sah. In seiner Monographie zur Stammesgruppe der Baiga beschäftigte sich Elwin 1939 im letzten Kapitel auch mit der Zukunft der Baiga. Unter dem Eindruck von "psychical apathy and physical decline" der Nachbarn der Baiga setzte sich Elwin für Maßnahmen zum Schutz der Baiga ein, die in der Forderung nach einem "National Park" gipfelten. Nur dadurch könne ihr freier Zugang zu den Wäldern wiederhergestellt und gesichert werden - ein wichtiger Umstand für die Brandrodung praktizierenden Baiga. Ein solcher Park sollte frei von Missionaren und Bewegungen aller Art sein, die zwar formal auf ein "social uplift" der Baiga hinarbeiteten, dabei aber gleichzeitig Stammestraditionen verunglimpfen würden. Wie Elwin auch später betonte, ging es ihm nicht um eine Isolation der Stämme, sondern lediglich um einen "planned and controlled contact" (Elwin 1998 [1964]: 291) zwischen kulturell verschiedenen Gruppen.
Elwin's Gegenspieler in der Debatte, der Ethnologe G. S. Ghurye, wies dessen Ideen in seinem Buch "The Aborigines: So-called and Their Future" 1943 strikt zurück. Ghurye, im Gegensatz zu Elwin ein Brahmane, Schriftgelehrter, "nationalist anthropologist" (Béteille 1991: 77) und "Lehnstuhl-Ethnologe" (Guha 2000: 157) ohne größere ethnographische Erfahrung, wies auf die Gemeinsamkeiten zwischen Hindus und Stämmen hin, auf bereits weitgehend "hinduisierte" Segmente von Stämmen und ihren aufgrund von Migrationsprozessen nur vermeintlich autochthonen Charakter. Er schrieb:
"Only very small sections, living in the recesses of hills and the depths of forests, have not been more than touched by Hinduism. Under the circumstances, the only proper description of these people is that they are the imperfectly integrated classes of Hindu society. Though for the sake of convenience they may be designated the tribal classes of Hindu society, suggesting thereby the social fact that they have retained much more of the tribal creeds and organization than many of the castes of Hindu society, yet they are in reality Backward Hindus." (Ghurye 1963: 19)
Selbst wenn man die Frage, ob und wieviel Schutz bestimmte Gruppen der indischen Gesellschaft benötigen, beiseite lässt, bleibt der entscheidende Konfliktpunkt in der Debatte - nämlich die Charakterisierung der "Scheduled Tribes" als "Ureinwohner", wie Elwin betont, oder als "rückständige Hindus" wie Ghurye argumentiert.
Diese Frage, ob "Stämme" in Indien als separate ethnische Entitäten anzusehen und damit von der Hindu- bzw. Kastengesellschaft zu unterscheiden sind, ist keineswegs irrelevant, sondern hochpolitisch im gegenwärtigen hindu-nationalistischen Diskurs. Ein Hauptziel des hindu-nationalistischen Projektes ist die Konstruktion einer Hindu-Mehrheit. Indien soll dementsprechend mit Hindu identifiziert werden. j. Dubashi, ein führender Ideologe der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP), äußerte sich in diesem Sinne:
"The key to genuine development is self-assertion - as an Indian, and as a Hindu, for India is nothing if not Hindu."
(Dubashi 1992: x)
In ähnlich Weise soll V. Naidu, gegenwärtiger BJP-Präsident, unlängst auf einer Wahlkampfveranstaltung angemerkt haben:
"Hindutva [Hindutum - US] is the lifeline of this country." (zit. in: The Hindu, 16.03.03, Online Edition)
Ein solcher Versuch Indien zu hinduisieren (Ludden 1996) würde, sofern erfolgreich, keinen Raum für abweichende Ideen und Werte von Stammesgruppen bieten, da aus hindu-nationalistischer Perspektive eine solche Diversität die angestrebte Einheit aller Hindus gefährden würde. In diesem Sinne werden Stammesgruppen im Jargon hindu-nationalistischer Gruppierungen bevorzugt als "Vanajati" (Kasten der Wälder) oder als "Vanvasi" (Waldbewohner) charakterisiert - Begriffe, die, im Gegensatz zu Adivasi, weniger die kulturelle Differenz betonen.
In der ethnologischen Forschung ist das Konzept des Stammes seit längerem umstritten. Es wurde als "Problem" (Helm 1968) oder als "Illusion" (Southall 1970) beschrieben. Ethnologen wie Southall haben vor allem im afrikanischen Kontext zu Recht auf die "Erfindung von Stämmen" beispielsweise im Sinne einer namentlichen Missrepräsentation der Stämme durch koloniale und post-koloniale Administrationen hingewiesen.
Trotz bestimmter Verzerrungen der Stammesstrukturen seit der Kolonialzeit lassen sich dennoch tribale Ideen und Werte erkennen, wofür das Werk des Ethnologen Marshall D. Sahlins (1968) hilfreich ist. Ausgehend von seinen Forschungen in Ozeanien charakterisierte er einen Stamm als:
"socially articulated, a tribe is specifically unlike a modern nation in that its several communities are not united under a sovereign governing authority, nor are the boundaries of the whole thus clearly and politically determined. The tribe builds itself up from within, the smaller community segments joined in groups of higher order, yet just where it becomes greatest the structure becomes weakest: the tribe as such is the most tenuous of arrangements, without even a semblance of collective organization." (Sahlins 1968: vii-viii)
Sahlins sieht somit das Fehlen einer zentralen Autorität und exekutiven Instanz als entscheidendes Kriterium eines Stammes, was aber keineswegs Phänomene des Übergangs vom Stamm zum Staat ausschließt, sondern lediglich als Prozess fortschreitender Intensivierung von Autorität gesehen wird. Zudem verbindet Sahlins mit dem Stamm eine generalisierte Struktur der Gesellschaft - es findet keine Unterscheidung zwischen politischer, ökonomischer, religiöser Sphäre etc. statt. Weiterhin ist im Begriff des Stammes ein latenter Kriegszustand im Sinne von Thomas Hobbes´"warre" impliziert, d.h. es fehlt ein institutionell garantierter Friede. Wie Sahlins (1968: 5) bemerkt, verfügen Stämme über keine "sovereign political and moral authority; the right to use force and do ‘battell',..., is held by the people in severalty". Die Studie von Nayak (1989) zu Fehden von Verwandtschaftsgruppen unter den Dongria Kondh im Süden Orissas bestärkt diese Aussage. Allerdings betont Sahlins (1968: 8f) auch die Rolle des Tausches und der Verwandtschaft, die einen latenten Kriegszustand ausgleichen können und eine Art "Weisheit" der Stammesgesellschaft offenbaren. Tauschaktionen können dabei zu symbolischen Friedensverträgen werden.
Sahlins Argument, das Fehlen zentralisierter Institutionen des Staates in Stammesgesellschaften, ist von Southall (1970: 29) mit dem Hinweis zurückgewiesen worden, die gesamte Welt sei bereits in Staaten unterteilt, und es gebe folglich keine autonomen Territorien mehr. Dennoch musste auch Southall die Möglichkeit einräumen, dass der Einfluss des Staates in entlegenen Gebieten mitunter nicht nur ineffektiv, sondern zu vernachlässigen sei. In vielen "Stammesgebieten" Indiens etwa im Unionsstaat Orissa scheint dies zuzutreffen und die Wirkmächtigkeit des modernen, bürokratischen indischen Staates sehr begrenzt zu sein.
Die Frage der Werte und Ideen der Stammesgesellschaft ist für Indien und speziell Mittelindien in jüngerer Zeit von G. Pfeffer wieder aufgenommen worden, nachdem bereits in Debatten der 1950er und 1960er Jahre festgestellt worden war, dass bei Stammesgruppen wie den Saora etwa dem Wert der Reinheit nicht dieselbe Bedeutung zukommt wie in der Kastengesellschaft. So hielten die Ethnologen Dumont and Pocock fest, wenn
"... a certain system of ideas and actions [...] defined as Hindu opposition of pure and impure is fundamental to Hinduism, then the Saoras are not Hindus, for their ideas in the matter are very sketchy." And, though "... Saoras do not ignore the importance attached by Hindus to these things ... [notion of ceremonial impurity - US] ... They do not submit directly to the scheme of Hindu values." (Dumont / Pocock 1959: 60-1)
Unter mittelindischen Stämmen kommt nach Pfeffer dagegen dem Wert der Seniorität eine besondere Bedeutung zu. Verschiedene Stammesgruppen als auch Segmente einzelner Stämme etc. sind dabei in ein hierarchisches Gefüge integriert, in dem der jeweils älteren Kategorie ein höherer Status zugewiesen wird. Insofern werden nicht nur die Stammesgruppen der Gadaba und Bondo, sondern auch gleichzeitig Senior-Gadaba von statusniederen Junior-Gadaba oder ältere von jüngeren Brüdern etc. unterschieden. Solche hierarchischen Beziehungen widerlegen zudem einen den Stämmen vielfach zugewiesenen egalitären Ethos.
In eine solche Hierarchie sind dabei nicht nur Stammesgruppen integriert, sondern auch Gruppen wie die Mali (Gärtner), Gauda (Viehhirten) oder Keunt (Fischer), die von der Regierung als "Other Backward Classes" (rückständige Unterkasten) klassifiziert werden oder Gruppen wie die Pano oder Dombo, die für die Administration als "Unberührbare" gelten. Da diese Gruppen insgesamt nicht nur den Wert der Seniorität, sondern auch Ideen bezüglich der Heirat, der Religion etc. mit den Stämmen teilen, kann man beispielsweise für Mittelindien von einer Stammesgesellschaft sprechen, die allerdings regional - abhängig von den jeweiligen Stammesgruppen, von äußeren Einflüssen etc. - unterschiedlich konfiguriert sein kann.
Vergleicht man die mittelindische Stammesgesellschaft mit der Kastenordnung, fallen weitere Unterschiede wie vor allem das signifikante Fehlen eines Varna-Modells, aber auch Gemeinsamkeiten auf. In beiden Gesellschaften wird eine Unterscheidung zwischen Status und Macht getroffen, wenn auch auf völlig unterschiedliche Weise. Während in der Stammesgesellschaft lokale Verwandtschaftslinien mit sakralen Funktionen von solchen mit weltlichen, säkularen Funktionen unterschieden werden, wobei erstere als ältere einen höheren Status inne haben, findet sich in der Kastengesellschaft eine Dichotomie zwischen dem statushöheren Brahmanen als professionellem Priester und dem über weltlich-politische Macht verfügenden König bzw. den Kshatriya. Auch komplexe Regeln der Kommensalität, d.h. das gemeinsame Essen betreffend, und der Heirat sind nicht nur auf die Ordnung der Hindus begrenzt, sondern existieren auch in der Stammesgesellschaft, und es ist ebenso möglich, dass die Stämme die benachbarten Hindus in diesem Sinne beeinflusst haben und nicht umgekehrt. Die Idee der Wiedergeburt und Reinkarnation findet sich ebenfalls unter den Stämmen, ist dabei aber nicht an die Idee von Karma gebunden.
Letztlich verwischen in der indischen Praxis und im politischen Prozess zunehmend die Grenzen zwischen Kasten und Stämmen durch permanente Prozesse der Oszillation zwischen diesen Kategorien. Verschiedene Gruppen können dabei, wie Parkin (2000) gezeigt hat, durchaus unterschiedliche Strategien verfolgen. Um einen höheren Status zu erlangen, versuchen einige Stammesgruppen wie etwa die Bhuyan sich in die Kastenordnung zu integrieren oder umgekehrt gerade ihre tribale Identität außerhalb dieser Ordnung zu bestärken wie das Beispiel der Santal zeigt. Gleichzeitig können aber auch Kasten wie die Kurmi danach streben, als Stämme anerkannt zu werden, um von materiellen Privilegien der Regierung zu profitieren. Prozesse der Politisierung einzelner Gruppen, wie bereits für die Kasten beschrieben, sind in ähnlicher Form auch unter Stammesgruppen zu beobachten. Somit sind Fragen der Ethnizität entscheidende Faktoren im politischen Diskurs - in jüngerer Zeit etwa in Bezug auf die Bildung neuer Unionsstaaten - , ein Diskurs, der konstruiert, aber auch manipuliert werden kann.
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