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23. September 2001. Nachrichten: Politik & Recht - Pakistan Pakistan am Scheideweg

Zwischen globaler Anti-Terror-Koalition und islamistischer Opposition

Die verheerenden Terror-Anschläge in den USA vom 11. September 2001 auf die Symbole der Wirtschaft und des Militärs der Weltmacht stellen auch für Pakistan eine historische Zäsur mit weitreichenden Folgen dar.

Wie die globale politische Elite reagierte auch der pakistanische Präsident und Militärdiktator Pervez Musharraf prompt mit einer Erklärung auf den Terror. Dabei bezeichnete er in einer landesweit gesendeten Fernsehansprache die Ereignisse in New York und Washington als "extrem brutalen Akt" und rief zu einer weltweiten Front gegen den Terrorismus auf.

Pakistan ist - nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi Arabien - der einzige Staat, der die Taliban-Regierung anerkennt. Diese beherbergen "America's Most Wanted", Osama Bin Laden, der unmittelbar nach den Anschlägen von den USA zum Hauptverdächtigen erklärt wurde. Die pakistanische Regierung unterstützte die Taliban trotz des UN-Embargos militärisch und logistisch fortwährend. Das Ausscheren Pakistans aus der nahezu einheitlichen Linie der übrigen Staatenwelt begründete Islamabad stets damit, nur so Druck auf die Taliban ausüben zu können. Von diesem Einfluss auf die ehemaligen Koran-Schüler zeigte sich in den jüngsten Tagen allerdings nicht mehr viel. So sind verschiedene pakistanische Delegationen bei ihrem Versuch, die Taliban zur Auslieferung ihres Gastes Bin Laden zu bewegen, gescheitert.

Dabei gelten die Religionsseminare, Madrassas, verschiedener islamischer Bewegungen in Pakistan, besonders in den grenznahen Regionen zu Afghanistan als "Brutstätten" der Taliban-Bewegung. Auch Jihad-Organisationen, die u.a. im indischen Teil Kashmirs zu den kriegsähnlichen Zuständen beitragen, haben in den Madrassas gemeinsame Wurzeln.

Krieg in Südasien?

Am 15. September fasste der Sicherheitsrat der pakistanischen Militärregierung einen entscheidenden Beschluss, der dem Land große innen- und außenpolitische Veränderungen beschert und über seine Zukunft entscheiden wird. Pakistan, so erklärte Außenminister Abdus Sattar, werde mit den USA "voll zusammenarbeiten". Ohne sich detailliert über diese Kooperation zu äußern, machte er jedoch klar, dass die eigenen Militärs sich nicht außerhalb des Landes an dem "Ausräuchern und Verfolgen" von Terroristen beteiligen würden, das US-Präsident George W. Bush für seinen Krieg gegen den Terrorismus angekündigt hatte. Die Vorbereitungen der USA zu einem Krieg in Südasien bzw. einem militärischen Angriff auf den von den Taliban kontrollierten Teil Afghanistans degradiert Pakistan als eventuelles Aufmarschgebiet zum erneuten Frontstaat und lenkt das Interesse der Weltöffentlichkeit auf das Land.

In einer Ansprache im afghanischen Radio Shariat warnte der geistliche Führer der Taliban Mullah Mohammad Omar am 14. September vor einer Zusammenarbeit Pakistans mit den USA gegen sein Land. Dies, so Omar, würde einen "Heiligen Krieg" auslösen. Dabei drohte er - ohne sich detaillierter zu äußern - auch damit, dass seine Truppen die Grenze jedes Landes überschreiten würden, das der amerikanischen Forderungen nach Militärbasen stattgäbe.

Seit dem 17. September mehren sich Berichte über eine Mobilisierung von 20.000 bis 25.000 mit schweren Waffen und Scud-Raketen ausgerüsteten Taliban-Soldaten, die am Khyber-Pass patrouillieren, und der Stationierung von Verbänden entlang der gesamten Grenze zum südöstlichen Nachbarn Pakistan. Die pakistanische Armee wurde ebenfalls in Alarmbereitschaft versetzt und patrouilliert seither an der Grenze der beiden an Afghanistan grenzenden Provinzen Baluchistan und der nordwestlichen Grenzprovinz (NWFP).

Bürgerkriegsängste in Pakistan

Im Zuge eines Treffens von über 30 islamischen Parteien und Gruppen Pakistans in der Provinzhauptstadt Lahore wurde die Diskrepanz zwischen ihnen und der Militärführung in Islamabad offenbar. So forderte Qazi Hussain Ahmed, Führer der einflussreichen "Islamischen Gesellschaft" - Jama'at-e-Islami - die USA und Pakistan dazu auf, "von der sowjetischen Niederlage zu lernen".

Der Präsidentengeneral Musharraf sagte eine kurzfristig geplante Reise nach China ab. Dort wollte er sich mit seinem wichtigen Verbündeten über ein weiteres Vorgehen absprechen.

In einer Rede an die Nation äußerte sich Musharraf über die schwierige Lage, in der Pakistan stecke. Demnach sei die Situation seit 1971, also der Abspaltung Bangladeshs und dem Krieg mit Indien, nicht mehr so brisant gewesen. Er sehe die Vorbehalte der geistlichen Führer, teile sie aber nur beschränkt. Indiens Position, die einer klaren Unterstützung der amerikanischen Linie entspräche, bezwecke, die Machtübernahme einer Regierung in Afghanistan, die Pakistan nicht weiter wohlgesonnen sei. Pakistan habe aber durch seine Beteiligung die Chance, diesen Plänen entgegenzuwirken. Laut Aussage des indischen Verteidigungsministers Jaswant Singh zögen, nach einem Hilferuf Mullah Omars, zahlreiche "Terroristen" aus Kashmir ab - sicherlich nicht zur Freude Pakistans.

Erstes Ergebnis der Zusammenarbeit mit den USA ist die Aufhebung der Sanktionen durch Präsident Bush am 23. September. Sie waren als Reaktion auf die Atomtests 1998 verhängt worden. Begründet wurde die Aufhebung damit, dass die nationale Sicherheit der USA nicht mehr davon betroffen sei und daher kein weiteres Interessen an einer Aufrechterhaltung der Sanktionen bestehe. Islamabad begrüßte den Schritt. Die 1998 gegen Indien verhängten Sanktionen wurden ebenfalls aufgehoben.

Trotzdem war es in den vorangegangenen Tagen wiederholt zu Protesten und Demonstrationen in Pakistan gekommen. Entgegen Musharrafs Bitte an die Religionsgelehrten, die politischen Parteien und die Medien um eine Unterstützung seiner harten Linie gegenüber den Taliban, gab es in mehreren Städten des Landes Ausschreitungen zwischen islamistischen Sympathisanten und den Sicherheitskräften, die mehrere Todesopfer forderten.

In Karachi, der größten Stadt des Landes, kam es zu einem völligen Erliegen der wirtschaftlichen Aktivitäten. Im Zuge einer Demonstration am 21. September in der Gegend um den Super Highway nahe Sohrab Goth erschossen Sicherheitskräfte Protestler, die sich im Anschluss an das Freitagsgebet versammelt hatten. Diese hatten zuvor einen Milchverkäufer, der sich nicht an den von den Hardlinern ausgerufenen landesweiten Generalstreik hielt, totgeprügelt. Bei den nahezu bürgerkriegsähnlichen Unruhen blieben die öffentlichen Einrichtungen, wie Schulen, geschlossen. Bei den Straßenschlachten entstand erheblicher Sachschaden. Auch in anderen Teilen des Landes forderten Demonstranten den Sturz der Militärregierung und riefen dazu auf, "Schlachten in jeder Strasse von Khyber bis nach Karachi zu führen" und jene zu töten, die an der Seite der Amerikaner ständen oder die Angriffe auf Afghanistan befürworteten.

Religiöse Führer der Jamiat-e-Ulama-e-Islam und der Jamiat Ahle Sunnat - also der Vertreter der Deobandi- und der Ahl-e-Hadith-Bewegung - und Mitglieder des "Afghan Defence Council" (ADC), warnten in Islamabad bei Kundgebungen die pakistanische Regierung vor einem Bürgerkrieg. Das ADC besteht aus 36 islamistischen Parteien und Gruppen aus Pakistan. Es wird geführt von Maulana Sami ul-Haq, dem Leiter der größten Madrassa Pakistans, der Dar al-Ulum Haqqania bei Akhora Khatak südlich der Provinzhauptstadt Peshawar. Weiter kündigten religiöse Führer an, dass, falls Mullah Omar den Krieg mit Amerika erklärt, jeder Amerikaner und amerikanische Einrichtungen ein Ziel seien. So verkündete Qari Nazeer Farooqi der Tageszeitung Dawn zufolge, dass es Bürgerkrieg geben wird, falls Pakistan seine Unterstützung für Amerika ausdehnen wird.

Sicherheitsprobleme

Derweilen wurden die Sicherheitsmaßnahmen für Präsident General Musharraf, aber auch für alle amerikanischen Einrichtungen und Personen, wie den Botschafter, Diplomaten und weitere Bürger, die sich im Land aufhalten, drastisch verschärft. Dabei bereite sich die Polizei, laut ihres "Senior Superintendent" Nasir Khan Durrani, auch auf mögliche Selbstmordattentate vor.

Meldungen über Übergriffe auf Muslime in den USA werden in den pakistanischen Medien sehr ausführlich behandelt - oft decken sich die Zahlen dieser Form von Intoleranz nicht mit denen in westlichen Medien.

In der Vergangenheit war es in Pakistan mehrmals zu Übergriffen auf US-Einrichtungen oder Amerikaner gekommen. So wurde beispielsweise im Herbst 1979 die US-Botschaft in Islamabad in Sichtweite des Präsidentenpalastes von einer aufgebrachten Menge gestürmt, wobei zwei US-Marines und zwei pakistanische Mitarbeiter getötet wurden. Seither gab es vereinzelte Übergriffe auf politische und wirtschaftliche Repräsentanten der USA. Dennoch sind die Empfehlungen von Vertretern verschiedener westlicher Länder, das Land zu verlassen nicht nur auf die USA beschränkt. Das Auswärtige Amt rät in einer Reiseempfehlung vom 19. September dringen davon ab, Pakistan zu besuchen.

Flüchtlingssituation

Die aus Angst vor möglichen Vergeltungsangriffen der USA aus Afghanistan nach Pakistan flüchtenden Menschenströme werden nach UNO-Angaben immer größer. Nahezu alle Grenzen um das Land sind mittlerweile gesperrt. Betroffen seien vor allem die Bewohner der Hauptstadt Kabul und des südlichen Kandahar, des vermeintlichen Aufenthaltsortes des Taliban-Führers Mullah Mohammed Omar und Osama Bin Ladens. Die Berichte über ein Ausbreiten von Krankheiten und Seuchen reißen nicht ab. In Pakistan steigen die Flüchtlingszahlen täglich, da viele über die "Grüne Grenze" kommen.

Quellen

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