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14. Mai 2008. Nachrichten: Indien - Politik & Recht Terroranschläge mit zahlreichen Toten in Jaipur

Islamistische Extremisten verdächtigt

Sieben Bomben explodierten in unmittelbarer Nähe des beliebten Touristenziels Palast der Winde (Hawa Mahal) und vor zwei Tempeln zu Ehren des Affengottes Hanuman.

Innerhalb von zwanzig Minuten wurden die Bomben von Mobiltelefonen, in den frühen Abendstunden des 13. Mai 2008 in einem Radius von zwei Kilometern mitten im Herzen von Jaipur, der Hauptstadt des Wüstenstaates Rajasthan, ausgelöst. Bei diesem seit 2006 schwersten Anschlag – die Terroristen verwendeten RDX und Ammoniumnitrit – und der folgenden Massenpanik wurden nach letzten Berichten mindestens 80 Menschen getötet und 150 zum Teil schwer verletzt. Eine Bombe konnte entschärft werden. Eine große zivile Hilfsbereitschaft, unter anderem durch Blutspenden, kam den Opfern zugute. Es handelte sich um den 21. Terroranschlag in verschiedenen indischen Landesteilen außerhalb von Jammu & Kashmir innerhalb der letzten drei Jahre und um den ersten Anschlag in Jaipur.

Ziele und vermutliche Drahtzieher der Anschläge

Die Anschläge sollten wohl Unruhen zwischen Hindus und Moslems provozieren und den Tourismus - mit einem 15-prozentigen Anteil am Bruttoinlandsprodukt von Rajasthan eine wesentliche Einnahmequelle - treffen. Jaipur hat, selbst unter den verschiedenen Regierungen der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), Harmonie zwischen Hindus und Muslimen bewahren können. Sogar nach dem widerrechtlichen Abriss der Babri-Moschee in Ayodhya 1992 und trotz Provokationen gegen Muslimen und Christen in den letzten Jahren durch die hindu-fundamentalistische Frontorganisation Bajrang Dal, dem militanten Jugendflügel des Vishwa Hindu Parishad (Weltrats der Hindus/VHP), kam es zu keinen kommunalistischen Auseinandersetzungen.

Indische Sicherheitsbehörden vermuten als Drahtzieher dieser brutalen Anschläge die 1984 in Pakistan gegründete, mittlerweile aber von Bangladesh aus operierende Harkat-ul-Jihad-e-Islami (HUJI) sowie die 1997 in Aligarh / Uttar Pradesh gegründete Students Islamic Movement of India (SIMI), die logistisch möglicherweise von der Terrororganisation Jaish-e-Mohammad (JeM) unterstützt wurden. Die 2005 in Bangladesh verbotene HUJI habe sich neu formiert. Es soll der Organisation mittlerweile gelungen sein, mittels Schläferzellen das indische Hinterland zu penetrieren. SIMI, beeinflusst vom Deobandi Islam, sieht Osama Bin Laden als "wahren Mujahideen" (Mail Today, 14.10.2007, S.4). Außerdem wird argumentiert, dass der pakistanische Geheimdienst ISI (Inter-State Services Intelligence), dessen Aktionen zunehmend von der internationalen Gemeinschaft beobachtet würden, HUJI für seine Zwecke nutze.

Kurz- und mittelfristige Szenarien

Die seit 2006 zunehmenden landesweiten Anschläge scheinen überwiegend nach einem bestimmten Muster abzulaufen. Dies trifft auch auf die Reaktionen des sichtlich überforderten indischen Sicherheitsestablishments speziell auf der Ebene der Einzelstaaten zu. Völlig überrascht von den Anschlägen in Jaipur wurde routinemäßig die höchste Sicherheitsstufe (Red Alert) für die sensitiven Metropolen New Delhi und Mumbai verfügt. Der politisch und in seiner Wirksamkeit umstrittene Innenminister Shivraj Patil – ein Favorit der Congress-Präsidentin Sonia Gandhi – brach nach Bekanntwerden der Anschläge in Jaipur seine Reise in den ebenfalls von Unruhen geplagten indischen Nordosten vorzeitig ab und kehrte nach Delhi zurück.

Die üblichen Appelle seitens der Spitzen der politischen Klasse, Ruhe und Ordnung zu bewahren, konnten selbst in dieser Extremsituation unterschiedliche Perzeptionen über die allgemeine Sicherheitslage in Indien durch die politischen Widersacher Congress und BJP in diesem Wahljahr nicht verdecken.

Es ist bislang ungeklärt, wie groß der Anteil islamistischer Kräfte beziehungsweise ziviler Personen, die sich unter anderem nach den schrecklichen Übergriffen gegen Muslime 2002 in Gujarat radikalisierten, bei diesen Anschlägen ist. Diese unübersehbare Dimension bereitet selbst langjährigen Kennern der Terrorszene, vor allem wegen der gefährlichen gesellschaftspolitischen Auswirkungen, größtes Kopfzerbrechen.
Zum Auftakt zahlreicher Landtagswahlen 2008, darunter in Jammu & Kashmir, aber auch in Rajasthan, sowie der Unterhauswahl spätestens in der ersten Jahreshälfte 2009, könnten diese Anschläge zu einer erheblichen Polarisierung des politischen Diskurses führen. Sie könnten Hardlinern speziell im Lager des Hindu-Nationalismus, aber auch auf islamistischer Seite, Auftrieb geben und damit von den eigentlichen Problemen des Landes wie unzureichender good governance, einer Inflation von über 7 Prozent und – trotz der guten wirtschaftlichen Zuwachsraten – einer unausgeglichenen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ablenken.

Infiltrationsversuche von aus Pakistan kommenden Terroristen in Jammu sowie schwere Gefechte unter Beteiligung indischer und pakistanischer Streitkräfte mit mehreren Toten führten erstmals zu einer nennenswerten Störung des Waffenstillstands zwischen Indien und Pakistan seit seinem Inkrafttreten 2003. Sie veranlassten Verteidigungsminister Anthony zu einem Kurzbesuch in Jammu. Er unterstellte, dass die Feinde Indiens versuchen würden, die Wahlen in Jammu & Kashmir zu stören.

Alle diese Ereignisse lassen sowohl eine Verschärfung der innenpolitischen Auseinandersetzungen in Indien als auch möglicherweise Spannungen mit dem neuerdings wieder demokratischen Nachbarn Pakistan für die nähere und auch mittlere Zukunft erwarten, wenn es nicht gelingt, den islamistischen Terrorismus – auch in Zusammenarbeit mit den Regierungen der anderen südasiatischen Staaten – und Infiltrationsversuche an der Grenze zwischen Indien und Pakistan nennenswert einzudämmen.

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