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24. Oktober 2003. Nachrichten: Forschung & Technik - Indien Elektronischer Ungehorsam

Ganze 25 "Separatisten" wollte Indien im Internet ausschalten – jetzt sind Hunderttausende betroffen

Weltweit gibt es seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zunehmende Bestrebungen, das Internet zu überwachen. Nun hat das indische Informationsministerium zum ersten Mal eine Domain sperren lassen. Doch Widerspruch regt sich bereits.

Die Nachricht kam überraschend. In Indien – der selbst ernannten "größten Demokratie der Welt" – ist seit mehreren Wochen die Internetseite "groups.yahoo.com" nicht mehr erreichbar. Dieser Service dient weltweit Millionen Menschen dazu, eigene Diskussionsforen im Internet zu gründen. Mitte September hatte die Regierung in Neu Delhi die Provider des Landes angewiesen, eine Diskussionsgruppe auf der Yahoo-Plattform zu sperren.

Der Gruppe mit dem Namen Kynhun wird vorgeworfen, "anti-nationale" Inhalte zu verbreiten. Kynhun, im August 2002 gegründet, hatte vor dem Verbot lediglich 25 Mitglieder. Hinter dem Forum soll das Hynniewtrep National Liberation Council (HNLC) stehen – eine verbotene Separatistengruppe aus dem Unionsstaat Meghalaya im indischen Nordosten. Die HNLC kämpft seit über zehn Jahren für die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Khasi-Ethnie. Im fragilen Nordosten – zu dem auch Assam und Nagaland gehören – führen seit einem halben Jahrhundert mehr als 30 Rebellengruppen Krieg gegen die Zentralregierung.

Verantwortlich für die Sperrung ist eine Behörde des Informationsministeriums. Das "Computer Emergency Response Center" (CERT-IN) hat im Juli seine Arbeit aufgenommen und ist autorisiert, Internetseiten zu sperren. Nachdem sich Yahoo geweigert hatte, die auf einem Server in den USA beheimatete Gruppe abzuschalten, mussten die indischen Internetanbieter handeln. Die CERT-IN verschickte die Sperrverfügung für Kynhun an über 400 Provider. "Die Lizenzbestimmungen zwischen dem Informationsministerium und den Servicebetreibern legen klar fest, dass die Provider angewiesen werden können, Internetseiten mit sicherheitsgefährdenden Inhalten zu blockieren", sagte Amitabh Singhal, Generalsekretär der Internet Service Providers Association of India, in der Wochenzeitung "Business Line".

Nationale Provider wirken als eine Art Einlasskontrolle. Bei ihnen kommen die Daten aus dem Internet an und werden an die Nutzer weitergeleitet. Dabei besteht die Möglichkeit, bestimmte Internetseiten zu blockieren. Im Fall der Yahoo-Diskussionsforen verhält es sich jedoch etwas anders, denn über die Seite "groups.yahoo.com" können zehntausende Gruppen erreicht werden. Technisch sei es schwierig, eine einzelne Gruppe zu blockieren, sagte V. Srinivasan, Geschäftsführer eines der größten Providers in Indien. Aus diesem Grund habe man notgedrungen den gesamten Service gesperrt. Seitdem sind nahezu alle Yahoo-Gruppen in Indien kaum noch zugänglich.

Wenige Tage nach Bekanntwerden der Yahoo-Blockade veröffentlichte die Londoner Nichtregierungsorganisation Privacy International unter dem Titel "Silenced" – zum Schweigen gebracht – eine Studie über die weltweiten Anstrengungen zur Internet-Überwachung. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten wurden insgesamt 50 Staaten untersucht, von denen viele das Internet als "Sicherheitsrisiko" ansehen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 seien fast überall die Möglichkeiten ausgeweitet worden, den Internetzugang zu blockieren oder zumindest einzuschränken.

Dabei nutzen Regierungen eine Vielzahl von Restriktionen: entsprechende Gesetze, das Filtern von Inhalten oder die Überwachung des E-Mail-Verkehrs. In einigen Ländern, etwa in der Volksrepublik China oder in Myanmar, seien kaum noch freie Meinungsäußerungen im Internet möglich. Zudem hätten auch in Demokratien wie der BRD oder den USA Regierungen durch die Ereignisse des 11.September die Möglichkeit erhalten, Restriktionen zu beschließen, die zuvor niemals die Parlamente passiert hätten. In Indien wurde im März 2002 das "Anti-Terror-Gesetz" Prevention of Terrorism Act (POTA) in Kraft gesetzt – das Internet kann seither stärker überwacht werden.

Indes regt sich der Widerspruch der Internet-Gemeinde. Die Organisation Reporter ohne Grenzen verurteilte das Vorgehen der indischen Regierung: "Dieser Fall betont die Gefahren der Internet-Zensur", sagt Generalsekretär Robert Ménard. Die Sperrung einiger Internetseiten ziehe sehr viele andere in Mitleidenschaft, deren Inhalte völlig legal seien. Harsh Kapoor, Herausgeber des South Asia Citizen Web (SACW), erklärt: "Es handelt sich um einen Angriff auf die Meinungsfreiheit und stellt einen gefährlichen Präzedenzfall von Zensur und Kontrolle des Internets in Indien dar." Seit Bekanntwerden der Sperrung ruft Kapoor, der seinen SACW-Newsletter selbst über eine Yahoo-Gruppe vertreibt, zu Protesten auf – und gibt Tipps, wie die Blockade umgangen werden kann. In Kalkutta formierte sich nun eine "elektronische Bewegung des zivilen Ungehorsams". Sie appelliert an alle Internetnutzer, Protest-E-Mails an die CERT-IN, die Provider, die beiden zuständigen Minister Arun Shourie und Ravi Shankar Prasad sowie die nationale Menschenrechtskommission zu senden.

Quelle: Der Beitrag erschien am 21. Oktober 2003 auf der Medienseite der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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