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09. Juli 2008. Rezensionen: Wirtschaft & Soziales - Indien Ethnographie eines indischen "Stammes"

"Die Birhor-Ethnographie und die Folgen. Ein indischer 'Stamm' im Spiegel kolonialer und postkolonialer Beschreibungen" ist die Dissertationsschrift von Markus Schleiter, in der er am Beispiel der kleinen Gemeinschaft der Birhor bisherige ethnographische Beschreibungen kritisch untersucht und nach Möglichkeiten einer adäquaten Repräsentation forscht.

Es gibt eine Reihe gebräuchlicher Kategorien zur Beschreibung sozialer Gruppen in Südasien wie die folgenden, seit der Kolonialzeit benutzten Begriffe Stamm, Kaste, Unberührbare, scheduled caste und scheduled tribes (geschützte Kasten und Stämme), aber auch neuere Begriffe, z.B. Adivasi, indigene Völker, soziale Gemeinschaften. Alle diese Begriffe sind Repräsentationen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen wie z.B. die Abwertung oder den Schutz bestimmter Gruppen. Kaum einer dieser Begriffe ist geeignet, die historische und gegenwärtige Wirklichkeit dieser Menschen zu erfassen und alle sind daher umstritten. In die Verwirrung der Begriffe sind wir durch die Moderne und ihre kategorisierenden Wissenschaften gelangt, deren Interesse nach klaren Zu- und Einordnungen eine Diktatur der mess- und zählbaren Homogenität und Eindeutigkeit anstrebt. Im Falle Indiens verband sich das Wissensinteresse mit dem Herrschaftsinteresse einer Kolonialmacht, die Scharen von Verwaltungsbeamten und Armeeoffizieren, später dann auch Ethnographen durch das Land schickte, um ein verwaltungstechnisch praktikables Ordnungssystem in die ihr sprachlich, kulturell und religiös fremde Bevölkerung zu bringen.

Markus Schleiters Arbeit trägt dazu bei, Licht in das Dunkel der Beschreibungen zu bringen. Seine Arbeit ist eine Mischung aus kritischer Sichtung ethnographischer Arbeiten zu Indien allgemein und den Birhor speziell, und darüber hinaus eine Darlegung der eigenen ethnographischen Forschung bei den Birhor. Bei diesen handelt es sich um eine soziale Gemeinschaft aus der Region Chota Nagpur, die im heutigen Indien als Primitive Tribal Group gelten. Schleiter beginnt mit einem leider schwer lesbaren Überblick über die Debatten innerhalb der Ethnographie um ihre Arbeitsweise und vor allem um ihre kolonialen Ursprünge. In dem darauf folgenden zentralen Kapitel Die "Stämme" Indiens kann der Autor zeigen, dass die ersten Begegnungen zwischen "Stämmen" (er setzt den Begriff konsequent in Anführungszeichen) und Vertretern der Kolonialmacht seit dem 18. Jh. "militärischer und damit oft brutaler Natur waren, was auch das Niederbrennen von Dörfern und Exekutionen einschloss." (S.60) Galt es hier, die Sicherheitsinteressen der britischen Ostindischen Kompanie zu wahren, so verweist die frühe und zahlreiche Rekrutierung von Menschen aus den Stammesgebieten für den Arbeitsmarkt auf die wirtschaftlichen Interessen britischer Unternehmer. Die Stammesbevölkerung galt bei diesen als "arbeitswillig" und "fügsam", daher wurden sie besonders in den Jahren zwischen 1830 und 1870 für Indigo- und Teeplantagen in Indien wie auch für Arbeit nach Mauritius und Guyana angeheuert. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Begriffe "Stamm" und "Kaste" oft noch synonym verwendet. Es ging den kolonialen Akteuren primär um die Vermarktung von Arbeitskräften, die Nutzung der Waldressourcen oder Steuereinnahmen. Für die jeweiligen Verwaltungsbeamten oder Armeeoffiziere konnten ethnographische Arbeiten auch der Einstieg in eine akademische Karriere in England im Anschluss an den Kolonialdienst sein. Die ethnographische Konstruktion der "Stämme" mit den jeweiligen Zuschreibungen wie primitiv, isoliert, rückständig, gefährdet erfolgte erst ab der Mitte des 19. Jh., gleichlaufend mit dem Begriff der "Kaste". Mit beiden Begriffen sollte fortan jeweils etwas anderes beschrieben werden, ohne dass es dafür eine hinreichende Grundlage gab. So konnte es passieren, dass ein und dieselbe Gemeinschaft in einem Gebiet als primitiver Stamm, in einem anderen als niedrige Kaste und wieder woanders als herrschende Schicht klassifiziert wurde. Dennoch wurde die koloniale Einteilung sehr bald von den nationalen Akteuren übernommen und findet sich bis heute auch in der Entwicklungshilfeideologie als Paternalismus gegenüber den subalternen, so ganz anders gearteten und hilfebedürftigen Stämmen wieder.

Im Weiteren beschreibt er in dem Kapitel Die Birhor des Sarat Chandra Roy Leben und Werk des ersten indischen Ethnographen (1871-1942). Daran schließt sich eine Darstellung und Kritik der postkolonialen Ethnographie an. Deren Arbeit ist insofern für die aktuelle Situation der Birhor und anderer Gruppen von Bedeutung, als aus deren Erkenntnissen Handlungsstrategien für den Umgang mit den mittlerweile essentialisierten Stämmen abgeleitet werden, sowohl hinsichtlich konkreter Entwicklungshilfe als auch in der akademischen Forschung. So kann der Autor in seinem Resümee nahezu zynisch formulieren, dass die Birhor und deren postulierte Gefährdung eine notwendige Existenzberechtigung für eine Armada von Entwicklungsadministratoren wie Forschern bieten, deren Interesse an einer realen Verbesserung auch der ökonomischen Situation der Birhor demzufolge nur gering ist. (S.187)

In der Darlegung seiner eigenen Forschungsarbeit bei den Birhors erweist sich Markus Schleiter als sensibler Beobachter und Teilnehmer. Es geht ihm um eine De-Essentialisierung der Birhor und er möchte dies an ihrem Umgang mit der Malaria zeigen, die wie die Tuberkulose vor allem in sozialökonomisch schwachen Bevölkerungsgruppen verbreitet ist. Es geht um die Aushandlungen um biomedizinische Behandlungen und "Entwicklungshilfe", wie er das Kapitel überschreibt, wobei mit dem irreführenden Begriff Biomedizin schlicht die moderne Schulmedizin im Unterschied zu traditionellen, alternativen Medizinformen gemeint ist. Zur Behandlung von Malaria scheint es allerdings keine effiziente traditionelle Alternative zu geben. Das Beispiel Malaria kann daher nicht die Wirksamkeit traditioneller Medizin generell bewerten. Schleiters Interesse liegt auch mehr in der Beobachtung einer Birhor-Siedlung, mit deren Bewohnern er recht vertraut ist, um deren Entscheidungen und Handlungsstrategien im Falle einer Malariaerkrankung zu verstehen. In Art einer Erzählung, die den Leser in die Gemeinschaft mitnimmt, schildert er ein Fallbeispiel und kann zeigen, dass einerseits traditionelle Vorstellungen über Ursache und Therapie der Malaria eine schulmedizinische Behandlung nicht ausschließen, sondern dass beide Diskurse parallel zueinander verlaufen können. Andererseits sind auch die traditionellen Vorstellungen nicht homogen, sondern können auf unterschiedliche Vorstellungen verweisen, deren Berechtigung jeweils ausdiskutiert werden muss. Welche Strategie verfolgt wird, handeln die Akteure jeweils konkret aus und diese Strategien sind auch für die Verteilung von Gütern sowie der Entwicklungshilfe relevant. Das heißt, es gibt keine vorgegebene, in essentialistischer Weise zu beschreibende Handlungsweise von "Stammesleuten". Dies wird besonders deutlich in dem Einfluss von konstruierten Verwandtschaftsbeziehungen, die neben die biologischen gestellt werden, wodurch sich ein weiterer Handlungsspielraum eröffnet. Die Existenz einer determinierenden "Tradition" – so Schleiters Resümee – ist daher zu verneinen. (S.180)

Das Buch bietet Informationen vor allem für Ethnologen, Indologen und Feldforscher aller Art.

 

Markus Schleiter. Die Birhor - Ethnographie und die Folgen. Ein indischer "Stamm" im Spiegel kolonialer und postkolonialer Beschreibungen. Draupadi Verlag, Heidelberg 2008, 204 S., 19,80 EUR. ISBN 978-3-937-60325-4 Pick It!

 

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